Rummelplatz
hier zu finden hoffte. Und sie ahnte plötzlich, daß sie durchaus noch nichts wußte von diesem Martin Lewin, von seinem Leben, von seiner Welt. Vitzthum hatte nun in das Gespräch eingegriffen, aber sie hörte nicht mehr zu, gab sich keine Mühe mehr, zu entwirren, zu verstehen. Es war drückend warm hier, in der Wirtsstube zum »Blauen Wellem«, und draußen lag der kalte weiße Schnee, draußen war Luft und Frische. Er war nicht so weiß und so frisch, wie er rings um die kleine Schihütte gewesen war, der Schnee, im vorigen Winter, nicht so weiß und frisch wie im Allgäu. Aber es war wirklicher Schnee und es war wirklicher Winter. Und es war immer möglich, zurückzukehren. Zurück zum Hohen Ifen, zum Hochkarst des Gottesackerplateaus, zu den Zweieinhalbtausendern, dem Großen Krottenkopf und den breitsattligen Häusern in Oberstdorf, zur summenden Behaglichkeit des Hüttenofens und dem Geruch von Holz und Schnee und Schiwachs. Und es gab jemand, mit dem man jetzt gern dort gesessen wäre, für eine Woche, oder zwei …
Und Martin, woran denkt er? Er hörte sich an, was Kaiserling dem Gespräch beisteuerte, Kaiserling, dessen Vater |152| Gymnasiallehrer war, war, bis zum Jahre dreiundvierzig. Da nämlich holte ihn die Gestapo. Wenig später kam aus Mauthausen die Todesnachricht. Kaiserling, der wußte, daß sein Vater der Denunziation einiger seiner Lehrerkollegen zum Opfer gefallen war, und es ihnen nicht nachtrug, weil er wußte, daß er, nahm er es ernst, einem ganzen Volk hätte nachtragen müssen, was diese wenigen getan, einem ganzen Volk, das jenem System der Denunziation nicht Einhalt geboten hatte vom ersten Tag an, das sich geduckt, stillgehalten und schließlich mitgemacht hatte, so wie sein Vater sich geduckt hatte, nur etwas weniger tief und mit weniger mürbem Rückgrat als die anderen – auch er war bei heimlichen Worten geblieben. Kaiserling, der ihm, Martin, am nächsten stand in diesem Kreis, und der nun gleichsam zum Angriff blies gegen Nürnberger, mit den Worten, die sie alle kannten, die sie als ihre Möglichkeit sahen und doch ahnten, daß es vielleicht nur eine Narrenmöglichkeit war. Man dürfe den Boden nicht zerstören, auf dem man stehe, sagte er, dürfe nicht die Grenze verwischen zwischen der eigenen Position und der eines Valéry oder eines Mallarmé oder auch eines Sartre. Merkte er nicht, daß auch dies keine Position war, das Zauberwort von der Hoffnung der jungen, heimgekehrten Generation auf ein einiges, demokratisches Europa? Zauberworte – wer verwirklicht sie? Die Equipen, von denen sie immer wieder sprachen? Jene kleinen Grüpplein von Gutwilligen, die das Wunder fertigbringen sollten, das ein anderer von ihnen, Caspar Kreutz, formuliert hatte, nämlich: die jungen geistigen Eliten aus allen Parteien, allen Weltanschauungen und Gesellschaftsklassen zu vereinen zu einer großen Elite, einer politischen Equipe, die das Steuer herumzureißen vermag, eine geistige Erneuerung einzuleiten vermag, getragen von Deutschlands jüngerer Generation und gerichtet eben auf eine neue deutsche Einheit und ein geeintes Europa? Immer nur Zauberworte und Wunder und Eliten. Waren sie nicht, Nürnberger ausgenommen, allesamt schon abgedrängt |153| aus dem Tagesgeschehen, aus der Massenbeeinflussung, aus der Maschinerie, welche Volksmeinungen erzeugt, aus der politischen Publizistik beispielsweise? Waren sie nicht nur noch ein literarisches Häuflein, guten Namens zwar, aber ohne wirklichen Einfluß? Und die Grüppchen, die, nach Caspar Kreutz, in den anderen europäischen Ländern nach dem Kriege sozusagen spontan entstanden waren? Wer ging mit ihnen in diesen ihren Ländern, wer ward aufgescheucht aus der neuen, großen, geschäftigen Trägheit?
Und Martin dachte an die beiden Monate, die er in Süd-Wales verbracht hatte, in einem jener Industrievororte. Die Häuser da sind ein- und zweistöckig, manchmal steht ein Alpenveilchen im Fenster oder eine Geranie, und wenn man vom Ruß absieht, ist es wie in jeder Vorstadt. Alles scheint aus dem gleichen Material gemacht, das Straßenpflaster, die Häuser, ein grauer Schlackestein, porös und mit einem schwarzen Schimmer. Auf den ersten Blick ist alles sauber und ordentlich, erst wenn man genauer hinsieht, merkt man, daß hier ein Fenster fehlt, dort eine Tür mit Pappe vernagelt ist, und die Blumen sind schlaff und kümmerlich und von der gelblichen Müdigkeit der Leberkranken. Die Wohnungen sind alle gleich, es ist immer der gleiche Tisch
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