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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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selber notwendig erscheint; nicht vorwärts und nicht zurück, was eigentlich schon eine ideologieverdächtige Formulierung ist; wird man diesen Platz je verlassen? Aus eigenem Willen? Oder erst, wenn man gezwungen wird? Oder ist man vielleicht mit einer Hand und einem Fuß, einem Auge und einem Ohr bereits eingetreten?
    So saßen sie jeden Sonnabend, tranken Bier und Kaffee, und dann tranken sie den Frankensteiner Wein. Und Kaiserling sieht nun die Hand des Mädchens Irene auf der Hand Martin Lewins liegen, er stößt Vitzthum an, und er berührt Semmlers Fuß, Kaiserling hat einen Witz auf der Zunge, aber Semmler hat etwas gegen solche Witze, das fällt Kaiserling noch rechtzeitig ein, und vielleicht wäre es auch wirklich nicht recht angebracht, also hebt er nur sein Glas, blinzelt Vitzthum und Semmler zu, und die beiden heben nun ebenfalls ihre Gläser und blinzeln zurück.
    Ja, er hatte noch immer das bläulich rasierte Kinn, noch immer die soldatisch-straffe Haltung, noch immer den schmallippigen Mund und die kalten, grauen Augen, und er hatte sie ganz sicher erkannt, hat sie erkennen müssen, die drei Meter, die sie vor ihm stand. Wo kam er her? Wo war er gewesen die ganze Zeit? Und was wollte er hier? Gösta Giseking wußte: sieben Jahre sind eine lange Zeit, sie können einen Menschen verändern, noch dazu sieben Jahre wie diese. Aber sie wußte auch, daß manche Menschen sich nie verändern, sich nicht verändern lassen, von nichts und niemandem auf der Welt.
    Sie war sehr froh gewesen, daß sie damals im Frühjahr dreiundvierzig die Dolmetscherstelle bekommen hatte; der Dienst in einem Naziministerium, noch dazu in dieser Phase des Krieges, war alles andere als angenehm, aber verglichen mit dem, was sie in der Rüstungsindustrie erwartet hätte, war es eine beinahe paradiesische Stellung, wenigstens war sie ihr am Anfang so erschienen. Und der Verpflichtung in die Rüstungsindustrie wäre sie anders kaum entgangen; ihre drei Sprachen |159| waren plötzlich unbezahlbar. Es war auch alles gut gegangen, in der ersten Zeit, bis zu jenem Tag eigentlich, da er auftauchte, er, Servatius. Er gehörte der geheimnisvollen Kaste der oberen Fünfzehn an, in diesem Ministerium, und er war weit mehr im Ausland, in den besetzten Gebieten vor allem, als in der Dienststelle. Er erschien damals in der Uniform eines SS-Obersturmbannführers, obwohl er, wie sie von einer anderen Dolmetscherin gehört hatte, keinem regulären SS-Verband angehörte. Er war 1938 bereits, ›seiner Verdienste wegen‹, in den formellen Ehrenführerrang eines Obersturmführers erhoben worden, die weitere Beförderung geschah rein turnusmäßig, und an diesem Tage nun war er zum Obersturmbannführer ernannt worden. Es war übrigens das einzige Mal, daß sie ihn in dieser Uniform sah.
    Köhler hatte ihr geraten, die Einladung anzunehmen, Köhler, den Dienst- und den Lebensjahren nach ältester Beamter des Ministeriums, dem Dienstrang nach allerdings einer der niedrigsten. Man brüskiert einen Ministerialrat Servatius nicht. So war sie am Abend in sein Haus gefahren, zusammen mit einigen anderen. Servatius zeigte sich als netter Gesellschafter, höflich, korrekt, den Vorgesetzten ließ er ganz aus dem Spiel, und abgesehen von den Anzüglichkeiten einiger jüngerer Kollegen, die dem Alkohol allzufleißig zugesprochen hatten, war es eigentlich ein ganz hübscher Abend.
    Zwei Tage darauf erhielt sie den Dienstauftrag, Servatius in die Tschechoslowakei zu begleiten, Protektorat Böhmen und Mähren, sie hatte bis dahin mit dem Referat und der Abteilung, der Servatius angehörte, nicht das geringste zu tun gehabt, wußte nicht einmal, was sich hinter der Referatsbezeichnung B II versteckte, die gesamte Abteilung war nicht im Ministeriumsgebäude, sondern in einer Außenstelle untergebracht; wußte nicht, worum es ging. Sie sollte es auch in Prag nicht erfahren. Die beiden Besprechungen, zu denen sie zugezogen wurde – sie übersetzte das, was Servatius sagte, drei französischen Herren –, waren wenig aufschlußreich, es |160| ging um Industrieanlagen und um einige tausend Arbeitskräfte. Einmal wurde der Name des Reichsministers Speer erwähnt, irgendein Erlaß, eigentlich nur zwei Paragraphen daraus. Andererseits machte sie sich wenig Gedanken, das Arbeitsgebiet des Ministeriums und der Ablauf einzelner Vorgänge waren nun einmal für einen Dolmetscher nicht zu übersehen. Sie hatte also in den drei Prager Wochen fast ständig dienstfrei und glaubte,

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