Rummelplatz
voller Leidenschaft gezeugt, mit dem närrischen Ehrgeiz, alle anderen vergessen zu machen! … So erhöht sich von Jahrhundert zu Jahrhundert das monumentale Gebäude des Unlesbaren!« Er klappte das Heft zu, sah in die Runde, sah Semmler an und sagte: »Was willst du? Es stimmt!«
Und Irene verstand kein Wort. Wie hätte sie auch verstehen sollen? Wie hätte sie die Gedanken dieser Leute begreifen sollen und die Gewichtsverteilung, nach der sie ihre Gespräche ausloteten? Sie saß und hörte. Hätte man sie nach ihrer Meinung gefragt … Aber man fragte sie nicht. Nicht etwa aus Geringschätzung – daß jeder, der an diesen Tisch kam, mit den gleichen Problemen schwanger ging, wurde als selbstverständlich angesehen –, sondern weil man zunächst gar keine Zeit hatte, jemand zu fragen.
So saßen sie jeden Sonnabend, jeden Sonnabendabend saßen sie so, die Heimgekehrten, saßen und saßen. Semmler war der besessenste unter ihnen, er schrieb Gedichte, verstreute sie über das ganze Land, ab und an wurde eins gedruckt. Semmler, von dem der Satz stammte: Eigentlich ist es schon ein Erlebnis, nicht tot zu sein. Semmler, tuberkulös, verhungert, verlaust und erfroren irgendwo in einem Beskidendorf, das gegen einen Feind verteidigt werden mußte, von dem man nicht wußte, ob er Tscheche, Slowake oder Pole war, oder schon Russe; Semmler, der desertiert war im März fünfundvierzig und Glück gehabt hatte, sofern man da von Glück reden kann, denn als er nach Hause kam, war da kein Haus mehr, lebte die Mutter nicht mehr, war nichts, nichts mehr da. Das stand in seinen Gedichten, immer wieder, und |150| der Eiswind strich über die belorussischen Steppen, über die ukrainische Schwarzerde, über die schneeverwehten Karrenwege Nordrumäniens, der Hunger hockte in den Tälern der Beskiden, gefrorenes Brot, eine Maschinenpistolengarbe von irgendwo, und der beißende Frost in den Wundrändern; für Semmler war in diesem Krieg immer Winter gewesen. Es war klar, daß man ganz neu anfangen mußte, es war das Jahr Null, dieses Jahr fünfundvierzig, davor waren zwölf Jahre, die getilgt werden mußten, und noch weiter zurück war keine Vergangenheit. Es gab nur noch diese abendländische Ruinenlandschaft, durch die der Mensch irrt, allein, abgeschnitten von allen überkommenen Bindungen, von den Vätern, ohne alle Möglichkeit, auch nur einen Blick anzunehmen von jenen, die zwölf Jahre vorher kapituliert hatten vor einem irrationalen Abenteuer, es wäre eine Paradoxie. Sie waren sich einig in diesem Punkt, wenn es auch der einzige war, der sie vereinte. Und Semmler verfolgte ihn am besessensten.
Nein, das alles verstand Irene nicht. Sie versuchte, etwas von dem Gespräch zu begreifen, aber es rann durch sie hindurch wie durch einen Filter, Worte blieben zurück, nur Worte.
»Die Kunst«, sagte Semmler, »hat immer das Bedürfnis, der Wahrheit die Hand zu reichen.«
»Gewiß«, versicherte Nürnberger. »Aber Abschied nehmend, mein Lieber, Abschied nehmend …«
Und Nürnberger? Auch er saß jeden Sonnabend, stritt sich, aber weniger aus Besessenheit, sondern eher weil dieser Streit, abseits von den allzukleinen, allzutäglichen Dingen, ein Vergnügen war, das er jeder anderen Vergnügung vorzog. Man wußte nicht genau, was Nürnberger während des Krieges gemacht hatte, er war bei der Luftwaffe gewesen, Leutnant, mehr wußte man nicht. Nürnberger war Redakteur am Kölner Sender, er pumpte Semmler Geld, aber Manuskripte von ihm nahm er nicht an.
Dünn war der Faden, der sie alle zusammenhielt, er hielt nur zusammen den Glauben an das Jahr Null, und schon das |151| Jahr Eins sah für Nürnberger anders aus als für Semmler. Für ihn zerstörten die Dinge sich selbst in ihrer ökonomischen Mechanik, nivellierten den Menschen, hoben die Klassengegensätze auf und zermalmten ihre eigene Basis, ließen den Menschen mit dem Menschen allein. Und niemand wußte, daß Nürnberger im Herbst jenes Jahres Null Mitglied der Kommunistischen Partei geworden war, wußte er es selbst noch? Es waren wohl auch nur ein paar Monate gewesen. Und längst hatten die Menschen aufgehört, sich nach oben und unten zu unterscheiden, nach arm und reich, nach rechts und links, sie hatten aufgehört, etwas anderes zu sein als eben Menschen. Allerdings war der Alltag anders, und Nürnberger wußte genau, von wem er abhängig war und wer von ihm.
Irene begann sich zu fragen, weshalb Lewin sie hierher mitgenommen habe. Ja, sie fragte sich, was er selbst
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