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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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mit den vier Stühlen, das Sofa, der Geschirrschrank und die Waschkommode, die gleichen fleckigen Matratzen in der Schlafstube. An den Wäscheleinen der Hinterhöfe hängen die gleichen gestopften Socken, die verblichenen Arbeitsblusen, die ausgewaschenen Hemden mit den hellen Flecken unter den Achselhöhlen, die farblosen Unterröcke. Auch die Gerüche sind in allen Häusern gleich: Es riecht nach Essen, nach Wäsche, nach Mauerfeuchtigkeit, nach Windeln und nach Ruß. Manchmal sieht man einen Vogelbauer, manchmal einen Kaninchenstall aus Kistenbrettern, und zwischen den Schuppen in den Höfen manchmal eine kleine Reparaturwerkstatt. Es ist die Gleichförmigkeit der Arbeit und der Armut, und nur eine Unterbrechung schien hier möglich: der Krieg. |154| Nun aber saßen sie in Hendersons Eckkneipe an der George Street, die Jungs, die aus der Armee entlassen waren, tranken Porter und schlugen die Zeit tot, wurden der Verwandtschaft präsentiert, vierzehn Tage herumgereicht und bestaunt als die großen Helden des großen Krieges, der eine oder andere dekoriert mit dem authentischen Offiziersakzent und der Erinnerung an die Zeit, da man noch wöchentlich vier Pfund für Bier und Zigaretten ausgeben konnte, und sollten sich nun, nach allem, was hinter ihnen lag, wieder einfügen in den banalen Alltag der Vorstadt, den langweiligen Arbeitstag, sollten wieder die genügsamen jungen Männer sein, die sie vor dem Krieg gewesen waren, mit irgendwelchen billigen Idealen, einem Mädchen und einem Fahrrad für den Weg zur Arbeit und später zwei, drei Kindern? Schauten sie auf die Equipen ihres Landes? Sie schauten auf ihr Fortkommen.
    Und vom Kriege abgesehen, bleibt immer alles gleich, selbst die Gespräche. Man spricht über die Kinder, über den Lohn, über den letzten Film, über das Essen und über die Preise und vielleicht noch über ein Hunderennen oder eine Fußballmannschaft. Man wird dort geboren, geht zur Schule, dann in die Fabrik oder in den Schacht, man lernt ein Mädchen kennen, das erste Kind kommt fast immer, bevor eine Wohnung da ist und Möbel, bis zwanzig ungefähr arbeitet man, um sich etwas anzuschaffen, bis zwanzig allenfalls gelingt es dem einen oder anderen, auszubrechen, aber dann hat man eine Familie, und die will ernährt sein. Man wird dort geboren, lebt dort – und stirbt dort, meist in der gleichen Straße, im gleichen Haus. Inzwischen macht man Kinder, die heiraten und machen Kinder, die lernen in der Schule die Namen von Blumen, die sie nicht kennen, von Meeren, die sie nicht kennenlernen, von Ländern, die sie nie sehen werden, falls nicht gerade wieder einmal ein Krieg kommt. Und natürlich lernen sie den Katechismus und die schönen englischen Sprichwörter, wie man in einem anderen Land andere Sprichwörter lernt, beispielsweise in Deutschland: Bescheidenheit |155| ist eine Zier, Arbeit macht das Leben süß, Üb’ immer Treu und Redlichkeit, Eigner Herd ist Goldes wert und Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt – letzteres von Bismarck. Die Eliten? Diese Leute hatten andere Sorgen …
    Das dachte Martin Lewin, und er wußte, daß dies kein Weg war, wie die Gelehrtenrepublik des Erasmus kein Weg gewesen war, ein Homunkulus allenfalls, und er wußte auch keinen anderen. Nein, er hatte keine Antworten, er war auf der Suche, aber er wußte nicht wonach. Er versuchte nun, Irene zu erklären, halblaut, leise fast, aber die anderen hatten gar keine Zeit, auf ihn und das Mädchen zu achten, sie hörten mit halbem Ohr Vitzthum zu, der versicherte, es zeichne sich überall in Westeuropa ein Umschwung ab, ein Übergang von der sozialdemokratischen zur christdemokratischen, um nicht zu sagen konservativen Regierungspolitik, ihm hörten sie mit halbem Ohr zu, während die andere Hälfte ihres Wesens bereits nach Gegenargumenten, nach Formulierungen, nach Seitenthemen auf der Suche war; er aber, Martin, versuchte ihr zu erklären, daß er hier, hier in diesem Kreis, und allein in diesem Kreis, gefunden hatte, was er gesucht, und daß er nun, da es gefunden war, sah: das ist es nicht, es ist kein Weg, es ist wiederum keine Antwort. Und daß er sich dennoch nicht losreißen konnte, denn wo sollte er hin? Er sah nicht, daß sie weit weg war in ihren Gedanken, hinausgegangen war aus diesem schwitzenden, flackernden Zimmer, und er begriff nicht, daß auch er nichts wußte von diesem Mädchen Irene, von ihrem Leben, ihrer Welt; er hatte sich ein Bild von ihr gemacht und sprach zu einem

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