Rummelplatz
Bilde.
Aber nun stand jemand zwischen ihnen, beugte sich über den Tisch, ein Geruch von Winter und von Schneeluft, Wasserperlen auf dem Flauschmantel und im langen offenen Haar, ein fahles Gesicht und Augen von der Schwärze des Haares. Gösta Giseking war groß und schlank, aber sie wirkte eher zierlich. Alle nickten ihr zu, und nur Kaiserling sagte |156| irgendeinen Gruß, den sie stumm beantwortete. Sie sah Irene lange an, gab ihr dann die Hand, wie man einem alten Bekannten die Hand gibt, während die anderen sich bereits wieder in ihr hin und her hüpfendes Gespräch vertieften; sie war vielleicht dreißig, vielleicht aber auch fünfunddreißig, und für Irene war sie ganz ohne bestimmbares Alter. Sie setzte sich zwischen Vitzthum und Lewin.
Sie war wirklich sehr bleich, und irgendwas an ihr wirkte erschreckt, als sei sie soeben einer Gefahr entronnen. »Was ist los?« fragte Vitzthum. »Du siehst aus, als wäre dir der Teufel über den Weg gelaufen.« Auch Irene sah nun zu ihr hin, sah ihren seltsam starren Blick, der von weit her kam, als nähme sie erst jetzt die Dinge in der Nähe wahr. »Der Teufel«, sagte sie. Aber dann brach sie ab, eine verlegene Handbewegung, nein, nein, es ist nichts. Und sie zündete sich eine Zigarette an, bestellte ein Getränk. Sie gab keine Erklärung.
Es waren auch nur Sekunden, dann war alles wieder, wie es vorher gewesen war. Am oberen Tischende webten sie ihr dünnzwirniges Wortgewebe, Semmler schlürfte seinen Kaffee, den wievielten wohl, Nürnberger blies den Schaum vom Bier. Jemand hatte den Ventilator eingeschaltet, das Propellergeräusch legte sich über Worte und Gläserklirren und machte den Raum noch niedriger.
Es war Sonnabendabend, und sie tranken Bier und Kaffee, und dann tranken sie den Frankensteiner Wein. Es war nichts. Gösta Giseking war wie immer etwas später gekommen, sie produzierte sonnabends ihre Französischsendung für den Schulfunk des kommenden Vormittags, ihr Job für die Miete, wie sie das nannte. Es war nichts. Sie tranken den Frankensteiner Wein, und der Abend war noch lange nicht zu Ende.
Sie aber dachte: Er war es, ganz sicher war er es. Noch immer das bläulich rasierte Kinn, wie damals, vor sieben Jahren, noch immer die geschmeidig-straffe Haltung und die faltenlose Stirn, nur schwerer war er geworden, massiger. Hatte er sie nicht erkannt – oder hatte er sie nicht erkennen wollen? |157| Und noch immer die kalten grauen Augen, noch immer der schmale Mund. Er hätte sie erkennen müssen, denn so sehr hatte auch sie sich nicht verändert, Gösta Giseking.
»Vielleicht«, sagte Kaiserling, »vielleicht haben wir die anderen unterschätzt. Die Restaurateure, die Konformisten, die privatisierten Bürger. All diese Leute mit ihrer pathologischen Vergeßlichkeit, ihrer krampfhaften Tüchtigkeit, ihrem Riesenbedürfnis nach Mätzchen. Vielleicht unterschätzen wir sie, diese Millionen Einzelnen, ja, es sind Einzelne, aber sie sind nur einzeln, solange sie fallen wie die Wassertropfen, und einmal unten angekommen, bewegen sie sich im gleichen Fluß. Und vielleicht bedarf diese Strömung ganz einfach einer Opposition, die sich klar ist, daß sie nie Position werden kann; nicht mitmachen, ihnen den Spiegel vorhalten, keine Tabus und keine Schablonen und keine Programme; die Wirklichkeit ansehen ohne Vorgabe, ohne weltanschauliche Präformation, ohne den Aberglauben an irgendeine historische Kontinuität. Ja, vielleicht haben wir sie unterschätzt, aber wir haben von vorn angefangen, eine neue Sprache, eine neue Substanz, eine neue Konzeption. Das ist vielleicht alles, was zu erreichen ist.«
Er berührte Martins Hand und sagte: »Übrigens, wie weit bist du mit deinem Buch?«
Kaiserling, der fragt aus wirklichem Interesse, und die anderen … Semmler vielleicht auch. »Ich bin wieder am Anfang«, sagte Martin Lewin. Und dann, lächelnd: »Neue Sprache, neue Substanz, neue Konzeption.«
So saßen sie jeden Sonnabend, seit zwei Jahren, bestärkten einander und wahrten gleichzeitig ironisch Distanz, engagierten sich im Desengagement und meinten es ernst, denn es war ernst, nach allem, was hinter ihnen lag, an ›Volk ohne Raum‹ und Fronttheater, an Durchhaltepresse und ›Wollt ihr den totalen Krieg‹, an Türen, die mit einem Donnerschlag zugeschlagen worden waren und sich nun so verdächtig leise öffneten, daß sie es vorzogen, draußen zu bleiben oder |158| wenigstens auf der Schwelle. Man wird diesen Platz nur verlassen, wenn es einem
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