Rummelplatz
sie habe das Servatius zu danken.
An den Abenden war sie oft mit ihm zusammen. Sie gingen in irgendein Lokal, tanzten, tranken teure Weine, und natürlich merkte sie, daß sie ihm gefiel. Servatius hatte Lebensstil, das war selten in jenen Zeiten. Er lud sie zu einer Jagd in den böhmischen Wäldern ein, ging mit ihr zu einem Kammerkonzert, er verstand zu erzählen, und er war aufmerksam, dabei aber sachlich und von beinahe sportlicher Geradheit. Eines Abends erzählte er ihr, daß seine Frau sehr jung gestorben sei, bei der Geburt seines Sohnes, der bei den Schwiegereltern aufwuchs. Er sagte das nicht in jenem Ton trivialer Liebesbedürftigkeit, es war eine einfache Mitteilung, weiter nichts. An diesem Tage schien er ihr überhaupt anders als sonst. Er erzählte ihr, daß er einmal eine ganze Nacht mit dem Stabschef des Marschall Pétain Schach gespielt hatte – er war, wenigstens im Spiel, ein fairer Verlierer –, und er erklärte ihr, daß man in dieser Zeit verstehen müsse, den Dienst und den Krieg und die Politik aus seinem Privatleben, sofern es das überhaupt gibt, herauszuhalten. Das waren fast ihre eigenen Gedanken. Und er erzählte ihr von den Pirschgängen in den litauischen Wäldern, von Forellenfängen und von Motorbootrennen. Er sagte ihr sogar – und er sagte es nicht der Dolmetscherin Giseking, er überschritt nun die Grenzen offen – er sagte ihr seine Meinung über die Dinge, die in Deutschland und Europa geschahen. Der Nationalsozialismus war für ihn eine rein wirtschaftliche Frage. Wissen Sie, mir liegen diese Leute und ihre bombastische Phraseologie weiß Gott nicht. Aber was soll man machen? Heutzutage |161| müßte jede moderne Wirtschaft scheitern, wenn man sie demokratisch statt autoritär organisieren würde. Sie konnte ihm nicht widersprechen, sie wußte nicht worin. Es war ein Abend in der zweiten Woche. Und an diesem Abend blieb sie bei ihm.
Wievieles im Leben tut man aus einer Stimmung heraus, aus einer Laune, die nur zustande kommt, weil man nicht weiß, nicht wissen will, weil man sich fürchtet, zu wissen. In einer Zeit, da unter allem, was man ergreift, der Tod lauert und das Verbrechen. Weil man einen Augenblick vergessen will und glaubt, wenigstens sich vergessen zu können, wenn schon die Zeit unaufhaltsam weiterwirkt. Weil man einmal die Augen schließen möchte vor dieser grellen, tödlichen Wirklichkeit; aber die Bilder blieben auch unter geschlossenen Lidern, unverwischbar, damals und in aller künftiger Vergangenheit.
»Und dann«, sagte Kaiserling, »lernt er eines Tages einen Standesbeamten kennen, der ein System erfunden hat, nach welchem er die Eheschließungen registriert. Das ist in einer Kleinstadt, und der Mann kennt dort alle Leute. Er hat sechs Kategorien, und er unterscheidet in Liebesheirat, Lustheirat, Verlegenheitsheirat, Gelegenheitsheirat, Geschäftsheirat und Standesheirat. Er macht das seit dreißig Jahren, und er hat auch die fünfunddreißig Jahre mit aufgearbeitet, die sein Vater ihm hinterlassen hat, denn der war ebenfalls Standesbeamter. Er korrespondiert mit anderen Standesbeamten in aller Welt, die sich seinem System angeschlossen haben, in Frankreich, in England, in Italien, in Amerika, in Rußland, in der Tschechoslowakei, in Schweden und sogar einer in Montenegro; sie tauschen jedes Jahr ihre Ergebnisse aus und führen eine Statistik über den Anteil der einzelnen Kategorien an den Gesamteheschließungen. Auf diese Weise wissen sie besser über den Gesellschaftszustand in den jeweiligen Ländern Bescheid, als die betreffenden Regierungen, und sie haben sogar eine Art Diagnostik entwickelt, mit deren Hilfe |162| sie auf fünf Jahre genau vorausbestimmen können, wie sich der Anteil der Kategorien auf die kommende Politik, und wie sich die Politik auf die kommenden Hochzeiten auswirkt …«
»Hahahaha«, machte Nürnberger. »Und dann?«
»Hm«, sagte Kaiserling, »weiter weiß ich noch nicht.«
Und es war nun fast Mitternacht. Nürnberger hatte ziemlich viel getrunken, er vertrug immense Mengen, auch Caspar Kreutz hatte stark getrunken, sein glasiger Blick schwamm über die polierten Glatzen im Hintergrund, über das abwaschbare Lächeln der Kellnerin, über Semmlers trockenen Husten, über Vitzthum, der irgend etwas in ein Heft kritzelte, über Martin und Irene und Gösta Giseking. Und sie tranken den Frankensteiner Wein – damals war es Rüdesheimer gewesen, oder roter Ludmilla aus Melnik, es war Sonnabendabend oder eigentlich schon
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