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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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starr an, wie damals, am Fenster, als sie Dvořáks Sonatine spielte und sich immer wieder vergriff. Nicht, sagt sie, nicht. Aber irgend etwas ist über ihr, warm und drückend. Und sie erwacht, zerrt sich das dicke Federbett vom Gesicht, schwer atmend, begreift die Dunkelheit nicht und den Wind, der draußen an den Fensterläden rüttelt … Sie schlief bis in den späten Morgen hinein.
    Schnee ringsum, Spuren. Die sanften Hänge und die Häupter der Berge. Nun fanden sie den Weg. Den Wagen stellten sie bei Hoff ab. Nun die Schier und die Rucksäcke. »Herr Lewin«, sagte sie, als Martin aus dem Wagen stieg. »Jo«, meinte Hoff und legte den Kopf schräg. Und ein listiges Blinzeln – oder schien es ihr nur so? »Mein Verlobter«, sagte sie. Und nun legte auch Martin den Kopf schräg. »Jojo«, sagte Hoff. »Droben ist alles in Ordnung. Vorgestern hab ich mal den Ofen durchgeheizt.«
    Vom Dorf bis zur Hütte sind es zwei Stunden, aufwärts. Abwärts kann man es in der halben Zeit schaffen, und die Hiesigen brauchen noch weniger. Am zweiten Tag kam Hoff mit dem Schlitten, obenauf hatte er ein kleines Tannenbäumchen gebunden.
    Martin bewegte sich auf den Brettern wie ein Nichtschwimmer im Ozean. Irene entdeckte ihre pädagogischen Fähigkeiten. Sie brachte ihm ein bißchen Standfestigkeit bei, leichte Abfahrten, leichte Anstiege, schnürln, wie die Leute hier sagen, er war ein geduldiger Schüler. Größere Touren traute sie ihm nicht zu, aber bis zum Wettersteig und zur Linsegger Hütte, zum kleinen Reitzen und ins Dorf hinab kamen sie schon. Sie führte ihm Stemmbögen vor, scharf durchgerissene Kristiania, er versuchte es auch, aber in den paar Tagen war das natürlich nicht zu schaffen. Vor der Hütte bauten sie einen riesigen Schneemann, und natürlich versuchte sich Martin an einer Art Venus von Milo, die sie Simmentaler |168| Schneewittchen tauften, weil eine bestimmte Körperpartie an die berühmten Milchkühe erinnerte, mit denen die Schweizer Molkereien ihre Käseschachteln bekleben. Und sie lieferten sich Schneeballschlachten, wahre Turnierkämpfe, nur daß die Dame den fehlenden zweiten Ritter ersetzte und selbst das Rapier einlegte, und wuschen sich gegenseitig mit Schnee in aller Unschuld.
    In Wahrheit tat Martin nichts. Sie wußte nicht einmal, was er dachte. Herr Lewin, mein Verlobter – sicher, es war ein Manöver gewesen, eine Notlüge, aber hatte er nicht gespürt, daß da etwas mitschwang, hier und in allem? Sie konnte doch nicht einfach zu ihm gehen und … Sie wußte ja nicht einmal, ob sie es wirklich wollte. Ja, sie liebte ihn, wußte es nun, aber es war eine Liebe, die mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hatte, sie genügte sich selbst. Aber so erdfern war Irene nun wieder nicht, daß sie sich nicht gefragt hätte, zu welchem Ende sich ihre Wünsche neigten. Er hatte sie geküßt, damals, im Wagen, als sie in der Dunkelheit steckengeblieben waren, und wieder, als sie nach einer Tour zum Wettersteig die Eier hatte anbrennen lassen und als sie sich im Schnee wälzten, vor der Hütte. Und hatte ihr übers Haar gestrichen, abends, als sie die Kerzen in dem alten, sechsarmigen Leuchter entzündet hatte, sie hatte sich an ihn gelehnt, und er hatte ihr Haar gestreichelt, wie das doch nur ein Mann tun kann, der eine Frau liebt.
    Manchmal glaubte sie, sehr viel getan zu haben. Das Gespräch mit Breisach, das, was sie Vater gesagt hatte, und das andere mit Hoff, und daß sie hier waren, beide – er mußte es doch genauso empfinden wie sie. Aber die Unsicherheit blieb. Ja, er hatte sie geküßt, hatte ihr übers Haar gestrichen, zitternde Berührung, und manchmal hatte er sie angesehen mit einem Blick, in dem alles war, was auch sie empfand. Aber dann war immer irgend etwas geschehen, ein Fenster hatte geknarrt, eine Uhr geschlagen, die stumme Gemeinsamkeit war zerbrochen, der Zauber zerstört.
    |169| Und er, Martin? Es hatte bisher keine Frau gegeben in seinem Leben, flüchtige Begegnungen, ja, flüchtig, wie diese ganze Zeit war, Ellen, damals an der Universität, und das Mädchen in Dortmund, das er an der Straßenbahnhaltestelle getroffen hatte, als ihnen beiden die letzte Bahn weggefahren war – er wußte nicht einmal mehr ihren Namen. Es hatte aber bisher auch keinen wirklichen Freund gegeben. Am zweiten Abend in der Hütte – Irene schlief im großen Zimmer, er in der kleinen Schlafkammer, auf dem Feldbett, Wand an Wand mit ihr – hatte er sich gesagt: Was soll dieses kindische

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