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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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-nacht, sie rauchten die Zigaretten, die wieder legal gehandelt wurden, amerikanisierte Marken von deutschen Firmen, immer mit der Zeit gehen, und vielleicht hat man die anderen unterschätzt, aber man hat von vorn angefangen in Sprache, Substanz und Konzeption, und das ist vielleicht alles, was zu erreichen ist. Der Ventilator surrt noch immer, surrt in Gespräche und Gläserklang und macht den Raum noch niedriger, denn man hat ein ungeheures Bedürfnis, nachzuholen, was man versäumt glaubt, ein ungeheures Bedürfnis nach Mätzchen. Und es hatte doch alles so schön angefangen, hatte so schön geklungen und war über Nacht wieder verschwunden, weggespült von den vielen tausend fallenden Tröpfchen, sanglos, klanglos: Besinnung, Verantwortung, Gewissen.
    So war es denn sehr schnell gegangen. Wieder in Deutschland, in Berlin, im Ministerium, in ihrer alten Abteilung, erschien eines Tages einer jener drei französischsprechenden Herren, Vichy-Mann, wie man inzwischen weiß, und beschwor sie, doch etwas für ihn zu tun. Sein Sohn, sagte er, sei mit einem Fremdarbeitertransport nach Deutschland geschickt |163| worden, es könne sich doch nur um einen Irrtum handeln, sei abtransportiert worden, während sie in Prag über zusätzliche französische Arbeitskräfte für die deutsche Industrie verhandelt haben, in ein IG-Farben-Lager, aber von dort geflohen, der dumme Junge, und natürlich eingefangen worden, des bêtises, mauvais goût, und nun in ein Konzentrationslager überführt. Er habe sich bei Servatius angemeldet, sei aber nicht vorgelassen worden, und ob sie nicht für ihn, wo sie doch den Herrn Ministerialrat … Sie hatte nicht verstanden, vielleicht nicht verstehen wollen, hatte Köhler geholt. Der wurde wütend, ob sie wirklich so naiv sei, schließlich wissen schon die Scheuerfrauen, daß all diese Fremdarbeiter, Kriegsgefangenen, Juden in Form einer Zahl über Servatius’ Schreibtisch und dann in die Lager der Schwerindustrie, der Chemie, der Kriegsbetriebe wandern, von wo, laut Ministerium Speer, monatlich dreißig- bis vierzigtausend, nach einem Fluchtversuch oder sonstwie, zu den Vorhaben der SS überführt werden, und was das bedeute, brauche er ihr wohl nicht zu erklären, schließlich sei sie mit Servatius befreundet und nicht er. Er aber, Köhler, halte für diese Schweinereien nicht seinen Kopf hin, sie solle ihn gefälligst aus dem Spiel lassen. Aber dieser Auftritt hatte Zeugen gehabt, und einen Tag darauf war Köhler verschwunden. Schweinereien, Herr Köhler, ist ein hartes Wort. Wir werden Ihnen Gelegenheit verschaffen, sich eine passendere Formulierung einfallen zu lassen. Sie war zu Servatius gegangen. Mädchen, laß die Finger von diesen Dingen, damit ist nicht zu spaßen. Auch ich bin da machtlos. Ich habe versucht, wenigstens Köhler herauszuhalten, aber – Achselzucken – tut mir leid für ihn. Wenig später war sie versetzt worden, nach München, in die Stadt der Bewegung, Außenstelle sowieso.
    Sieben Jahre sind eine lange Zeit. Plötzlich hatte er vor ihr gestanden, kaum ein paar Stunden her, auf der Hauptpost, an den Telefonzellen, keine drei Meter entfernt. Er hätte sie erkennen müssen. Oder hat er wirklich alles vergessen, die |164| Vergangenheit, alles? Und was wäre, wenn er vergessen hätte, vergessen könnte, vergessen wollte, da doch die Bilder blieben, damals, und in aller künftiger Vergangenheit …
    Und sie sah auf, gab Lewin die Hand, der sich verabschiedete und ging, mit diesem Mädchen, dessen Namen sie, als sie kam, nicht gehört, nicht verstanden hatte.
    3.
    Die Silvesternacht. Noch der Geschmack des Windes, die Wärme von gestern und die Spur vom vergangenen Jahr; schon die Kühle des Morgens, das Licht, das zögernd an die Gipfel rührt, zwei Stunden, bis es die Täler erreicht. Und die Kerzen sind niedergebrannt, die Kelche geleert. Manchmal der Atem hinter der Bretterwand, die Bewegung eines Körpers im Schlaf, nebenan. Sie aber liegt wach, starrt in die zitternde Dunkelheit und fürchtet sich vor dem kommenden Tag, dem ersten des neuen Jahres, dem letzten.
    Und führe mich nicht in Versuchung. Das Ferngespräch mit Dr. Breisach: Sie hatte nicht von zu Hause aus angerufen, der Eltern wegen; zwei Stunden auf dem Postamt, bis die Verbindung hergestellt war, zwei Stunden auf und ab, möchten Sie mit Ihrer Tante in New York sprechen? Fasse Dich kurz! Möchten Sie mit Ihrer Tante in Paris … Luftpost: Ihr Vorteil! – und Gesichter, auf und ab, Irene Hollenkamp, man

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