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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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sieht dir die Lüge an, die erste wirkliche Lüge, Gesichter kommen und gehn zwischen den Reklamen, den Befehlszeilen, Schmuckblattelegramme für alle Gelegenheiten, und alle Gesichter sehen dich an, zwei Stunden. Ferne blecherne Stimme. Hallo, Irene! Nein, Ute und Bärbel sind noch nicht da, du weißt ja, die Klausuren. Übrigens, wir fahren nach München über die Feiertage, meine Schwester möchte uns mal ein bißchen mit Weihrauch bewedeln, bitte? … den Hüttenschlüssel? Jaja, könnt ihr haben, ja, hinterleg ich immer bei |165| Hoff, allerhand Schnee da oben heuer, Wetterprognose, schönen Gruß also, wird gemacht – ja, richte ich aus.
    Große helle Schalterhalle, Glas-Stahl-Marmor, und der Notflügel, ausgebrannt, notdürftig aufgebaut fürs erste, unpersönlich und kalt. Abends: Nanu? Schnelle Entschlüsse, die heutige Jugend, hat sie bestimmt von mir, haha, väterliches Erbteil. Ute und Bärbel fahren wieder mit? Schade nur für den jungen Servatius, ja, wir haben sie doch für Silvester eingeladen, und Senkpiehls mit ihrem Filius, wird ihnen nicht viel Spaß machen mit uns Alten, naja. Ziemliche Strecke mit dem Wagen, traust du dir das zu? Bei den Straßen? Gott ja, Mutter wird nicht gerade begeistert sein, ja, ich sprech mit ihr, versteh schon. Und wie steht’s mit deinem Finanzplan?
    Noch der Geschmack des Windes, die Wärme von gestern und die Spur vom vergangenen Jahr. Manchmal der Atem hinter der Bretterwand, Bewegung eines Körpers im Schlaf.
    In Oberhausen blieben sie stecken. Vier Kilometer Schneeverwehungen, gschauns, der Zug muß auch zurück. Beide Gasthöfe überfüllt, fahrens doch nach Kempten. Warum nicht gleich bis Ulm zurück? Und Martin studiert die Karte. Sieh mal, wir könnten es hier versuchen, schaut einigermaßen vertrauenerweckend aus, allerdings keine Staatsstraße, und was die Gemeinden so Straße nennen … Zwei Stunden später kam die Dunkelheit.
    Wo ein Wille ist, ist noch lange kein Weg. Zwar liegt kein Neuschnee, aber das einzige, was seit dem letzten Schneefall hier gefahren ist, scheint ein Pferdefuhrwerk gewesen zu sein. Und das da, das sind Schlittenspuren. Ein Pferdeschlitten war’s, und ein großer Brummer mit Schneeketten. Besser umlenken, das schaffen wir nicht. Und wie sieht’s mit dem Sprit aus? Winziger Dorfgasthof, an den Hochwald gelehnt. Jesus, die jungen Leut. Der Punsch schmeckt nach Waldbeeren, feurige Säfte im blutroten Glas. Ja unseren Beerenwein, den kennen Sie nicht in der Stadt. Lieber Gott, so weit her? Wir richten Ihnen schon etwas, heut kommen Sie |166| ja nirgends mehr hin. Sind ja ganz durchfroren. Vielleicht noch einen Punsch? Eier und Schinken und Graubrot. Auch das Brot schmeckt nach Wald. Und der Käse, den die Wirtsfrau dann aufträgt wie eine Kostbarkeit, Würze von Kräutern und Almengräsern. Der Punsch macht die Beine schwer und die Knie weich, und im Kopf entzündet er ein mildes Feuer.
    Es sind nur noch zwei Männer in der kleinen Wirtsstube, Stoppelkinne über ausgeblichenen Grünröcken, dicke Joppen am Kleiderhaken. Förster vielleicht, aber sie sehen aus wie die Räuber in Hauffs Märchen, im Wirtshaus im Spessart, sie blinzeln herüber und murmeln sich etwas in einer Sprache, die man nicht versteht. »Huuuh«, sagt Martin. »Die warten, bis wir schlafen, und dann rauben sie uns die Dukaten, und dich entführen sie zu ihrem Hauptmann. Was machen wir, wenn sie kein Lösegeld annehmen?« Die Räuber stecken das Kinn ins Glas.
    »Ich hab Ihnen die Kammer zurechtgemacht«, sagt die Wirtsfrau. »Müssens halt vorliebnehmen.« Was hast du denn gedacht, Irene?
    »Und für den jungen Herrn wird sich auch was finden«, sagt die Wirtsfrau.
    Das Haus ist winzig, die Gaststube ist winzig, winzig ist auch die Kammer. Ein breites Bett, ein Schrank, ein schmales Fenster. Und die Bettwäsche ist blau-weiß-gewürfelt. Ein dickes, schweres Federbett, man kann hineinkriechen wie in eine Höhle. Martin schläft nebenan, er klopft an die Wand und sagt gute Nacht. Das Zimmerchen gehört dem Sohn der Wirtsleute, der jetzt in der Stadt arbeitet. Aber es ist tüchtig kalt da drüben, sagte die Wirtsfrau, na, der junge Herr wird nicht gleich erfrieren.
    Wachst du noch, Irene, oder träumst du? Du liebst ihn doch?
    Ja, sagt sie laut. Und er streicht ihr übers Haar, das spröde ist wie auf einer Kreideskizze. Es wird der Schlaf sein. Auch, |167| daß plötzlich wieder die Angst in ihr emporkriecht, ist ein Traum. Nein, sagt sie, nein. Aber er sieht sie

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