Rummelplatz
Versteckspiel, Martin Lewin? Da ist ein Mädchen, das du gern hast, vielleicht weil sie dir so ähnlich ist, vielleicht weil sie so ganz anders ist als du, vielleicht als Freund, vielleicht als Frau – du weißt es nicht. Aber du weißt: Sie ist nicht mit dir hierher gefahren, nur um dir beizubringen, wie man auf zwei Brettern und mit zwei Stöcken einen Berg hinabfahren kann, und du bist ein Mann wie alle Männer. Und er hatte die Worte gewußt. Irene, ich weiß nicht, was mit uns los ist, und ich weiß nicht, was ich eigentlich will, aber ich weiß, daß alles, was geschieht, uns beide betrifft. Oder nein, auch das war Ausflucht, war die hochgestapelte Gefühligkeit, die zwischen ihnen stand. Und wenn ich einfach hinüberginge? Kann man denn nicht einfach Mann und Frau sein, natürlich, wie Millionen Menschen Mann und Frau sind, einfach, so wie Gott die Menschen geschaffen hat? Er hatte gehört, daß auch sie nicht schlief, wußte es, auch ohne daß er es gehört hätte. Und er dachte: Ich gehe hinüber, wir werden beide nichts sagen, weil nichts gesagt werden muß. Dann hatte er gehört, wie sie die Kerzen ausblies, und er war nicht gegangen.
Aber schlafen konnte er nicht. Denn auch er fragte sich: Zu welchem Ende führt das alles? Irene Hollenkamp und Martin Lewin – ihre Welt und seine Welt. Vielleicht war es wirklich nur dies: four nights will quickly dream away the time, eine letzte Hoffnung oder ein endgültiges Sich-Überlassen. So hätte es sein können, für ihn, aber für sie – für sie war dies |170| ein Anfang. Er konnte sich doch nicht mit einem Mädchen wie Irene zusammentun, in der Enge eines möblierten Zimmers, sie seine fünf Hemden bügelnd, die er brauchte, um irgendwohin zu gehen, irgendeinen Artikel zu schreiben für irgendein Honorar, auf das sie dann vier, fünf Wochen warten würden. Sie sah einen romantischen Schimmer, während er die nackte Wirklichkeit erlebte, manchmal in einem ungeheizten Zimmer, manchmal ohne Frühstück, und immer in der Frage: Wozu?
Ja, dachte er, es ist alles schon einmal erlebt, schon einmal geschehen. Ein Mann kommt nach Deutschland. Findet er es? Vielleicht sitzt Mutter jetzt im dunklen Wohnzimmer, summt vor sich hin, Mary has a little lamb, Ännchen von Tharau, aber nein, heute sicher nicht. Ein Mann kommt nach Deutschland, ein Mann ist nach Deutschland gekommen, und er war vielleicht der einzige, der Auskunft geben könnte, Beckmann, aber er ist wieder gegangen, aus Deutschland, aus der Welt, hat er es gefunden? Komm, Beckmann, irgendwo steht immer eine Tür offen. Ja, für Goethe. Für Shirley Temple oder Schmeling. Aber ich bin bloß Beckmann. Ein Mensch ist da, und der Mensch kommt nach Deutschland. Und dann liegt er irgendwo auf der Straße, der Mann, der nach Deutschland kam. Früher lagen Zigarettenstummel, Apfelsinenschalen und Papier auf der Straße, Hoffnungen auch, ja, manchmal auch Hoffnungen; heute sind es Menschen, das sagt weiter nichts. Und dann kommt ein Straßenfeger, in Uniform und mit roten Streifen, von der Firma Abfall und Verwesung. Und die Menschen gehen vorbei, achtlos, resigniert, blasiert, angeekelt, und gleichgültig, gleichgültig, so gleichgültig. Und wir gehen an ihnen vorbei, einer geht am andern vorbei, alle gehen vorbei; wohin sollen wir denn auf dieser Welt? Wo bist du, Anderer? Wo bist du denn? Warum schweigt ihr denn? Warum redet ihr denn nicht? Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum gibt denn keiner Antwort? Gibt keiner Antwort? Gibt denn keiner, keiner Antwort?
|171| Das hatte er gesucht, die Anderen, die Antwort geben konnten. Der Mensch muß doch eine Herkunft haben. Drei Viertel Deutschland und ein Viertel irgend etwas, das in diesem Lande zwölf Jahre lang einen gelben Stern trug, geteilt durch eine Emigration und eine halbe Erinnerung und keine Freunde, was ist dabei? Zwei Sprachen, in denen man Shakespeare und Goethe original lesen konnte, wo man ihrer bedurfte, aber keine, die Antwort gibt. Die beruhigende Verkündigung von der bleibenden Statt, die wir nicht haben, da wir die künftige zu suchen hier sind; wozu? Und die Briefe, die man schreibt an jemand, durch den man in der Welt ist und der sich freut über das Lebenszeichen, es in einem Kasten aufbewahrt, um es wieder und wieder zu lesen, die Worte zu lesen um der Schriftzüge willen und der belanglosen Mitteilungen: Das Wetter ist schön, der Rhein fließt noch, es geht mir so oder so? Nichts hatte er gefunden, nichts. Nur eines, das er
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