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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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sehr weit her, dünn und leise, als wolle sie den Raum bekräftigen, der zwischen ihnen und den Dingen der Welt unten lag. Aber bis zu der Übertragung, die sie hören wollten, war noch Zeit.
    Sie gingen vor die Hütte. Die Nacht hatte einen hohen, klaren Himmel, und die Sterne flackerten wie unter einem Wind, weit, weit über den Bergen. Es war die letzte Nacht der alten Jahrhunderthälfte, aber daran dachten sie beide nicht. Irene hatte sich an ihn gelehnt, und er legte den Arm um ihre Schulter. So standen sie lange, und Irene dachte: Es kann nicht wieder sein, wie es vorher war. Ein Tag war wie der |174| andere, und es gab nur Erinnerungen und Vergangenheit und keine Erwartung. Alles, was hinter ihr lag, erschien ihr trüb und ohne Hoffnung, die Eltern, die ihr stummes, eigenes Leben lebten, jeder für sich, die anderen an der Universität, die sich mühten um etwas, das sie nicht begriff, die Stadt, von Fremdheit befallen, alles, alles, das Haus über dem Rhein und die Wege, die sie gegangen war. Ja, dachte sie, ich habe immer gewartet, seit du da bist. Wenn ich nach Hause kam, und du hattest nicht angerufen, wenn ich in die Vorlesung kam, und du warst nicht da, immer wenn ich durch die Stadt ging. Sie war voller Zuversicht. Sie dachte an den Abend, da sie ihn abgeholt hatte; im Wohnzimmer seiner Wirtin hatte sie auf ihn gewartet. Es war für ein Mietshaus ein recht großes Zimmer, vollgestopft mit Möbeln und Gegenständen, die aussahen, als seien sie aus Zuckerguß, Schokoladenabgüsse von wirklichen Gegenständen, und sie hatte geglaubt, nicht atmen zu können in diesem Raum. Später, als sie es ihm erzählte, hatte er sie ernst angesehen und gesagt: Bei uns zu Hause ist es noch enger – eine Fünfzimmerwohnung, aber die Praxis ist mit drin und das Wartezimmer, und es bleiben nur drei Räume für vier Personen. Sie hätte sich auf die Zunge beißen können, damals, aber gleichzeitig war sie auch voller Angst gewesen vor dieser anderen, fremden Welt.
    Und sie sahen in die Nacht hinaus, sahen die Schatten an den Berglehnen und darüber den hohen Himmel, sie spürte seinen Arm um ihre Schulter und spürte seinen Atem.
    Als der Rundfunksprecher die letzte Minute des Jahres ankündigte, wußten sie nichts zu sagen. Stumm hoben sie ihre Gläser. Dann läuteten die Glocken des Landes, immer unterbrochen von der blechernen Stimme des Radiosprechers, die Glocken der Frauenkirche und des Ulmer Münsters, der Thomaskirche zu Leipzig und des Roten Rathauses zu Berlin, der Dome zu Mainz, Aachen, Regensburg und Meißen, der Marienkirche zu Lübeck und der Aureliuskirche zu Hirsau im Schwarzwald, Glocken aus Wien, Paris, Brüssel, |175| London und Basel, Glocken des Freiburger Münsters und der Abteikirche Maria Laach zu Andernach am Rhein, Glocken des Kölner Doms und der Stiftskirche zu Quedlinburg, Glocken, von denen es manche gar nicht mehr gab, dünn, weit her, vergänglich …
    Noch der Geschmack des Windes, die Wärme von gestern und die Spur vom vergangenen Jahr. Die Kerzen sind niedergebrannt, die Kelche geleert. War nun das Vergangene vergangen, das Künftige erkennbar?
    Der Wind, der aufgekommen war – sie wußte nicht wann–, schwoll zum Sturm. Sie stand auf, ging zum Fenster, fröstelte in dem hellblauen Nachthemd, das dünn und durchsichtig über Schultern und Brüste fiel; das Haar, spröde wie auf einer Kreideskizze, schmiegte sich offen und ein wenig wirr an den Nacken. Der Sturm brachte Schnee, mußte ihn schon seit langem gebracht haben, er lag bis dicht unter das Fenster. Wir werden nicht fahren können, dachte sie.
    Sie spürte nun die Müdigkeit. Sie ging ins Zimmer zurück, zog dann die Decke bis ans Kinn, hörte nebenan seinen ruhigen Atem. Sie stellte sich sein Gesicht vor, so, wie sie es sah, fragend und ernst und immer ein wenig fern. Dann schlief sie ein, mit leicht geöffneten Lippen, lächelnd.

|176| VII. Kapitel
    Der Neujahrsmorgen war rein und weiß wie frisches Leinen, spät nachts war noch Neuschnee gefallen; als Zacharias das Fenster öffnete, wehte eine Handvoll ins Zimmer. In diesem Zimmer wohnte Zacharias zur Untermiete. Es gehörte zu einer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung, zu einem vierstöckigen Mietshaus und zu einer Straße im Leipziger Norden, die vierundfünfzig Hausnummern hatte, einer Querstraße also. Außer den Häusern besaß die Straße neun Gaslaternen, siebenundzwanzig schmale Vorgärten, alle auf der gleichen Seite, und einen Baum. Auf die Straße hinab sah Zacharias aus

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