Rummelplatz
dem dritten Stock – heute war sie still und leer wie selten im Jahr.
Zacharias ging in den Korridor nach der Zeitung. Als er die Tür öffnete, wehte die gilbe Gardine wie eine Fahne hinter ihm her. Draußen erst fiel ihm ein, daß in der Silvesternacht nicht gedruckt wurde.
Er ging in die Küche und setzte das Wasser für den Tee auf den Gasherd. Das Gas brannte lustlos und matt. Der Teekessel war beschlagen; dort, wo Zacharias ihn berührt hatte, blieben die Fingerabdrücke zurück. Er steckte den Pfeifverschluß auf den Kessel und nahm zwei Brötchen aus der Brotkapsel. Er nahm auch das Teepäckchen aus dem Schrank, es war aus grobem grauem Packpapier mit einem aufgeklebten russischen Etikett; Zacharias hatte es auf der Kommandantur geschenkt bekommen. Nebenan hörte er die Wirtin rumoren, sie schien gerade erst aufgestanden zu sein. Sonst war das Haus noch sehr still. Er ging noch einmal ins Zimmer zurück, denn er hatte seine Zigaretten vergessen. Der Arzt hatte ihm zwar schon mehrfach dringend angeraten, das Rauchen aufzugeben, der Magen war nicht recht in Ordnung; |177| und Ihr Herz, mein Lieber, Sie wissen ja … aber Zacharias konnte auf den Tabak nicht verzichten, besonders vor dem Frühstück nicht. Professor Lupochin allerdings hatte ihm die Zigaretten erlaubt; damals, in dem Lazarett bei Minsk, als er seinen Hüftschuß auskurierte. Lupochin war Krebsspezialist, eine Kapazität, wenn auch eine etwas unansehnliche; sein Uniformrock unter dem offenen Arztkittel war immer zerknittert und von irgendwelchen Tinkturen befleckt, sehr zum Leidwesen der Oberschwester, die auf Ordnung und Autorität hielt. Übrigens war Professor Lupochin überzeugt, daß der Krebs durch eine Mikrobe hervorgerufen würde, und er war entschlossen, diesen Krebserreger eines Tages zu entdecken, wenn dieser blödsinnige Krieg zu Ende wäre. Sagen Sie mal, Paul Richardewitsch, ist dieser blödsinnige Krieg vielleicht ein Grund, meine Arbeit zu unterbrechen? Solange die Menschheit sich gegenseitig umbringt, kann man von mir nicht verlangen, daß ich diese Wesen ernst nehme, wie? Ihr großer Landsmann Robert Koch hat einmal gesagt … Er erzählte ständig Anekdötchen von Zacharias’ großem Landsmann Robert Koch.
Zacharias nahm die Zigaretten von dem ovalen Tisch, über dem ein gerahmter Kunstdruck an der Wand hing; es war die wundertätige Quelle des Albrecht Altdorfer. Zacharias hatte im Laufe seines wechselvollen Lebens außerordentlich viele Zimmer bewohnt, und die Geschichte seiner Zimmer war eine Geschichte von Kunstdrucken. Man kann sagen, daß seine Begegnung mit der Kunst bereits bei seiner Geburt begann, denn Zacharias war unter einem wunderschön tortencremefarbigen Elfenreigen geboren worden, was ihn damals allerdings weiter nicht gestört hatte. Und woher, frage ich Sie, hätte der Schreinergeselle Richard Zacharias, sein Vater, oder die Näherin Milda Zacharias, geborene Enke auch eine Beziehung zu den Werken der Malerei haben sollen, sie, die bis zu ihrer Eheschließung nicht aus dem gottverlassenen Kirchdorf Sellerhau im Niederschlesischen herausgekommen |178| waren? Zwar hielt man den sozialdemokratischen »Vorwärts«, das Blatt Wilhelm Liebknechts und August Bebels, leider aber war in dessen Spalten jene Neuerung, die Bruno Schönlank in der »Leipziger Volkszeitung« bereits im Jahre 1897 eingeführt hatte, die politische Karikatur nämlich, noch nicht aufgetaucht, so daß Richard und Milda Zacharias auch von dieser Seite her keinen Weg zu den Werken des Pinsels, des Stichels, der Feder und des Stifts finden konnten. Paul Zacharias jedenfalls hatte diese Beziehung auf dem Umweg über die Kunstdrucke, wie sie in möblierten Zimmern anzutreffen sind, gefunden.
Zacharias goß seinen Tee auf. Er trug die kleine Kanne, die Brötchen und das Marmeladenglas auf einem Brett ins Zimmer hinüber. Er schloß das Fenster und setzte sich an den Tisch. Er rauchte seine Zigarette zu Ende; die Wirtin klopfte, als er den winzigen Zigarettenrest gerade ausgedrückt hatte.
Frau Haustein war Witwe, ihre beiden erwachsenen Töchter auswärts verheiratet, sie arbeitete auf ihre alten Tage noch im städtischen Leihhaus, und im übrigen ließ sie es sich nicht nehmen, Zacharias ein bißchen zu bemuttern. Frau Haustein brachte also auf einem Porzellanteller zwei dünne Scheiben Christstolle, aus Roggenmehl gebacken und ohne Rosinen und Bittermandeln, immerhin aber mit ein paar Stückchen echten Citronats. Zacharias bedankte sich
Weitere Kostenlose Bücher