Rummelplatz
Ruhelosigkeit und Einsamkeit nicht mehr ertragen zu können glaubte. Und dennoch wußte man, daß diese Dauerhaftigkeit, diese Behaglichkeit, diese solide Ansässigkeit mit all ihren Attributen Schwindel war, |181| Lüge, erkauft vom Schweiß und Blut der Arbeiter oder mit dem teilnahmslos blökenden Opfergang des Schlachtviehs. Dennoch wußte man, daß all diese zur Schau getragene Dauerhaftigkeit und Sicherheit bestenfalls eine schöne Illusion war in dieser Welt, deren einzig dauerhaftes Merkmal der Wechsel ist. Man wußte es mit jener Gewißheit, die bereits in der frühesten Kindheit und Jugend erworben wird, es war ein erlebtes Wissen, kein erlerntes; es stammte aus der Wirklichkeit, nicht aus den Büchern. Man hatte es am eigenen Leibe erfahren; – viel später, als man die Lehren Marx’, Engels’, Lenins und Stalins las, konnte man sie mit diesem seinem Leben bestätigen, und man konnte ermessen, wie tief diese Männer hinabgestiegen waren, wie weithin sie ihr Fundament gelegt hatten, um sich so hoch aufzurecken, so kühn vorausschauen zu können. Ja, man konnte es selbst dann, wenn man ihre Gedanken nicht bis in ihre letzten Konsequenzen verfolgen konnte. Und vielleicht deshalb sang man dieses Lied, das eigentlich ein Lied der Jugend war, mit, als wäre es das Lied des eigenen Lebens. Besser als gerührt sein ist: sich rühren …
Man sah die ganze Flucht der möblierten Zimmer vor sich, der Asyle, aneinandergereiht wie an einem Hotelkorridor; die Umschlagplätze sah man, die Wartestationen, auf denen man eines freundlichen Zufalls harrte, eines Stempels unter irgendein Papier, einer Gelegenheit, im letzten Augenblick zu entrinnen, einer Möglichkeit weiterzuleben, weiterzukämpfen, sich weiter zu schinden. Und man sah die spärlichen Ruhestätten, die wenigen Orte, die wenigen Gesichter, die zum Bleiben einluden: Hier ist ein Tisch, hier ist ein Bett, hier bleibe. Sein Weg hatte ihn durch die Tschechoslowakei geführt, und da war Maria. Sein Weg hatte ihn durch Frankreich, Spanien und die Sowjetunion geführt, und da war Dussja. Warum eigentlich hatte er nie bleiben können, dort, wo so mancher eine neue Heimat gefunden hatte? War es – Deutschland? Oder war es einfach, weil die Unruhe in ihm |182| stärker war als die Unruhe um ihn? Oder war es beides, war vielleicht beides eins? In solchen Augenblicken tauchen die Bilder auf, die Bilder von einst, die Momentaufnahmen eines allzu kurzen, allzu ruhlosen Beisammenseins. Die enge Wohnung in dem einstöckigen Haus am Rande von Karlsbad, die dunklen Augen Marias, deren Mann mit dreiundzwanzig Jahren schon den glutflüssigen Tod der Glasbläser gestorben war, den erbärmlichen Tod, von dem die Holzkreuze auf dem Vorstadtfriedhof künden, Reihen von Kreuzen, unter denen die Gebeine von Männern bleichen, deren keiner älter als vierzig geworden ist. Warum hatte er nicht bleiben können? War es der Schatten des toten Mannes, den er ständig zu spüren glaubte und, das fühlte er, Maria auch? Sie hatten einander gefunden wie ein Obdachloser den anderen findet, sie hatten beide ihren Schmerz, ihren Haß und ihre Einsamkeit, sie hatten beide ihre hart und qualvoll pochenden Herzen.
Immer stehen diese Bilder am Ende, am Ende jener zählebigen Stunden, in jenen seltenen Tagen. Er spürt den Atem Marias, spürt die Nähe ihres Körpers, die weiche Rundung ihrer Brüste, jene Tage sind ihm wieder gegenwärtig und jene Nächte, denn hier handelt es sich nicht um die idealische Liebe, hier handelt es sich um Lust und Erfüllung, um Atemlosigkeit und Ermattung. Bilder, die für einen anderen seines Alters schamlos wirken könnten in ihrer übergroßen Deutlichkeit; er hat den Zenit seiner Jahre überschritten, und solche Stunden waren wenige. Er fühlt schon das Nahen des Alters und weiß, daß alles anders gekommen ist, als man damals zu wissen glaubte; die bessere Erfahrung mischt sich ständig mit dem Wunschgedanken, daß nun das Wichtigste erreicht, das Schwierigste überstanden sei. Er spürt das Schwinden der Jahre mit einem natürlichen Einverständnis und gleichzeitig einer natürlichen Auflehnung. Und immer verschwimmen diese Bilder, versinken unter Erinnerungen, die längst ungreifbar geworden sind, unter Erlebnissen, die ihn längst geformt haben, mischen sich mit anderen, näherliegenden, mit |183| Gedanken an heute und morgen, es ist ein Auftauchen vom Vergangenen ins Künftige, das die Gegenwart bewegt …
Der Tee ist kalt geworden, auch die Kälte des
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