Rummelplatz
linkisch; er wußte nie so recht, wie er sich gegenüber der freundlichen Aufmerksamkeit seiner Wirtin verhalten sollte, schließlich lebte sie ja selbst von der Hand in den Mund. Aber sie brachte es auch diesmal fertig, seine Verlegenheit mit einer unbefangenen Bemerkung wegzuwischen.
Wie sich herausstellte, war die Stolle gar nicht so übel. Was Zacharias aber an diesem Morgen, beim Frühstück, vor allem beschäftigte, war die Frage, wie er diesen Neujahrsmorgen einigermaßen mit Anstand überstehen könne. Zacharias gehörte nämlich zu jenen Leuten, die mit derlei Feiertagen beim besten Willen nichts anzufangen wissen. Gemeinhin |179| bleibt man an solchen Tagen zu Hause, man bleibt unter sich, man fühlt sich privat, man tut familiär. Alles Regungen, auf die sich Zacharias nicht verstand, ganz abgesehen davon, daß man als Junggeselle, als ›möblierter Herr‹, dazu auch recht wenig Gelegenheit findet.
Was soll man machen; je mehr man das Alleinsein gewohnt ist, um so beständiger laufen die Gedanken in eine bestimmte Richtung. Ein nicht sehr angenehmer Zustand … Sonst hat man immer etwas zu tun, etwas, das die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, und mitunter auch Belanglosigkeiten, die einem mechanisch von der Hand gehen, man hat immerhin jemanden, mit dem man sich unterhalten kann oder muß, man muß sich auf dieses und jenes vorbereiten, von dem und jenem Abstand gewinnen, sich Klarheit verschaffen, das Gehirn ist beschäftigt. Zacharias erinnert sich, daß er diese Tage, diese Stunden seit der Emigration kennt, ja, in der Emigration begann es. Es ist eine Art zählederne Müdigkeit, bleischwer und gleichzeitig auf eine nicht bestimmbare Weise unruhig, kribblig; man findet sich plötzlich in Einzelhaft, aber man weiß, oder, besser gesagt, man hat das Gefühl, daß man an dieser Haft selber schuld ist und daß man die Zelle ja jederzeit verlassen kann, nur: wohin soll man gehen? Es ist ein ungesunder Lebensrhythmus; der Tag hat achtzehn Arbeitsstunden, und sechs Stunden braucht der Mensch zum Schlafen, Leerlauf kennt man nicht. Aber man kennt auch keinen Ausgleich. Und normalerweise vermißt man auch nichts, man hat gar keine Zeit, etwas zu vermissen. Nur manchmal, an manchen Tagen, diesen scheußlichen Feiertagen …
Manche von den Leuten, die mit ihren freien Stunden nichts anzufangen wissen, haben aus ihrer persönlichen Not eine gesellschaftliche Tugend gemacht; sie organisieren. Sie organisieren nicht etwa um eines Ergebnisses willen, nicht etwa zu dem Zweck, daß etwas Neues entstünde, nein; sie organisieren, damit organisiert ist. Es ist das einzige Perpetuum mobile, |180| das je tatsächlich funktioniert hat: aus ihrer inneren Leere heraus organisieren sie ihre innere Leere weg. Sie drehen sich, und das befriedigt sie. Sie übertragen eine Kraft von irgendwo nach irgendwo, und wie das in der Mechanik zu sein pflegt, verändern sie dabei die Bewegungsrichtung oder die Drehzahl oder erzeugen Leerlauf, und unter ungünstigen Umständen geht das ganze Getriebe zum Teufel, aber wie gesagt: davon haben sie keine Ahnung. Ihr Daseinszweck ist: sich drehen. Und alles, was in die Reichweite ihrer Zähne gerät, drehen sie mit; oder … Natürlich: spätestens an diesem Punkt beginnt der Vergleich zu hinken, denn wie man weiß, verwenden diese Leute allerhand Energie auf den Erhalt ihrer Existenz. Aber der Vergleich ist nun einmal da, und es scheint, als bestünde der eigentliche Fehler darin, daß er sich so schamlos aufdrängt.
Woran aber denkt Paul Zacharias an jenen seltenen Tagen, in jenen zählebigen Stunden, da ihn die Einsamkeit überfällt mit der Grenzenlosigkeit der Welt, in der dies winzige, zerbrechliche Menschenleben sich müht, sich quält und gequält wird, sich immer wieder aufbäumt um einer besseren Welt willen, in der es vielleicht selbst nicht mehr heimisch werden kann … Ach, es ist ein armes, gedemütigtes Leben, das in alle Winde getrieben wurde auf seiner Suche nach der besseren Welt und dem Platz, an dem man sein eigenes Leben in die Schanze schlagen könne für das bessere. Und es ist ein stolzes, kraftvolles, männliches Leben, das die Suche nie aufgab und seinen Platz, seinen Kampfplatz sich immer wieder erkämpfte, denn auch die Teilnahme an diesem Kampf will erkämpft sein. Es gab Stunden, da man sich angesichts der so festgefügten Welt der Anderen nach etwas Dauerhaftem und Festgefügtem für sich selbst sehnte. Es gab Stunden, da man dieses Gefühl von Hunger,
Weitere Kostenlose Bücher