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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Zimmers wird nun spürbar. Soll man den Berliner Kachelofen anheizen oder nicht? An Briketts ist gottlob kein Mangel, man ist ja selten zu Hause, man kann sogar Frau Haustein noch etwas abgeben. Übrigens: ›zu Hause‹, man hat sich eben doch daran gewöhnt, diese vier Wände ›zu Hause‹ zu nennen …
    Als Zacharias die Reste seines Frühstücks vom Tisch räumte, war es elf Uhr geworden; nebenan summten die Schläge der großen Standuhr. Es war fast schon wieder Zeit zum Mittagessen. Auf dem Fensterbrett in der Küche stand, in einer Kasserolle leicht angebraten, ein Schweinskotelett, einhundert Gramm, auf den Fingernagel genau … Zacharias nahm den Mantel von der Flurgarderobe.
    Die Straße hatte sich mittlerweile belebt. Vor Zacharias ging ein kleines Männchen, das bei jedem zweiten Schritt einen eisenbeschlagenen Spazierstock in den Schnee stieß. Auf der anderen Seite kam ihm ein Ehepaar entgegen – wenigstens hielt er es dafür. In der Kurve an der Wiederitzscher Straße kreischte ein Einsatzwagen der Straßenbahn.
    Zacharias ging zum Rosenthal; die Sonntagsgeräusche der Stadt blieben zurück. Vom Raubtierhaus des Zoos herüber brüllten die Löwen, die berühmten Leipziger Zuchtlöwen, die kurioserweise nach Afrika exportiert wurden. Im Augenblick allerdings hatte der Zoodirektor Aufzuchtsorgen, der Bestand war zusammengeschrumpft, es fehlte an frischem Blut … Zacharias ging die Parkwege entlang, der Schnee war hier noch unberührt. Fern über den schwarzen Baumkronen sah er den dicken Turm des neuen Rathauses. Am Rande der großen Wiese, an der Schneise nach der Waldstraße zu, ließ jemand einen Hund apportieren, ein Airedale-Terrier, wie es schien, genau war es auf diese Entfernung nicht zu erkennen, außerdem blendete der Schnee.
    |184| Zacharias ging den Weg am Zoo entlang. Manchmal konnte man von hier aus durch den Zaun die Bisons sehen. Aber es ist alles tief verschneit, keine Spur im Schnee, nichts regt sich. Drüben auf der Wiese apportiert immer noch der Hund, es ist übrigens ein Fox, von hier aus erkennt man es besser. Irgendwo hinter diesen Bäumen dort wohnt der lange Schulze, der Parteisekretär vom Kraftwerk III. Schade, daß man die Hausnummer nicht weiß, man könnte ihn auf einen Sprung besuchen. Aber es ist wohl nicht die rechte Gelegenheit, so kurz vor Mittag, überdies sieht man sich ja morgen bei der Sitzung.
    Das neue Jahr fängt gut an: Sitzungen … Was ist denn mit den Füßen los? Scheinen wahrhaftig naß zu werden. Vielleicht rutscht der Schnee in die Schuhe? Nun, es ist ja zum Glück nicht kalt; seit man wieder in Deutschland ist, weiß man gar nicht mehr, was richtige Kälte ist … Also die Sitzung. Die letzte war ja ziemlich aufregend, verdammt aufregend kann man schon sagen. Im »ND« war der Bericht Gheorghiu-Dejs auf der Beratung des Informbüros der Kommunistischen und Arbeiter-Parteien erschienen, die Berichte vom Budapester Prozeß, Kommentare … Tito und Rankovic paktierten mit der Gestapo! Und dann Sätze wie diese: ›Die Kommunistische Partei Jugoslawiens in der Gewalt von Mördern und Spionen!‹ ›Die logische Folge der antisowjetischen Politik war der Übergang der Tito-Clique zum Faschismus!‹, ›Die Tito-Clique stellt sich die Aufgabe, in den Ländern der Volksdemokratien politische Banden aus reaktionären, nationalistischen, klerikalen und faschistischen Elementen zu bilden, um in diesen Ländern Staatsstreiche durchzuführen!‹ – Tito-Clique; diese Formulierungen hat man seit den Tagen Trotzkis und Bucharins und seit dem Moskauer Ärzte-Prozeß in den eigenen Reihen nicht mehr vernommen; man hat gedacht, diese Dinge seien ein für allemal vorbei. Und dann die Enthüllungen dieses Generals Popivoda … Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen |185| zur Sowjetunion im vergangenen Jahr … Und das ist derselbe Tito, der seit 1937 Erster Sekretär der KPJ ist, derselbe Tito, der die Befreiungsbewegung leitete. Derselbe Tito, den man zusammen mit Stalin und Mao Tse-tung, mit Dolores Ibárruri und Prestes, mit Thorez und Gottwald nannte … Wieder der Verweis darauf, daß nichts feststeht, und wieder genau zu einer Zeit, da man sich allzusehr mit scheinbar feststehenden Meinungen, scheinbar stabilen Vorstellungen umgibt. Und man hat geglaubt, diese Dinge seien ein für allemal vorbei …
    Was würde dieses neue Jahr bringen? Es war ja nicht nur ein neues Jahr schlechthin, es war die Jahrhundertmitte, der Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte …

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