Rummelplatz
kaputtzuschinden und die Zehen zu erfrieren. Zum Teufel, hat sein Alter den Krieg etwa weniger verloren als meiner?
Später begann Pinselstein zu erzählen. Ein halbes Jahr – wie nachhaltig kann es einen Menschen verändern. Während Christian sich von aller Welt verlassen fühlte, im ständigen Leerlauf und schon halb proletarisiert, war Pinselstein bereits mit allen Fasern Student. Er erzählte von seinen Studentenerlebnissen, vom Vorlesungsbetrieb, von dem Neuen in seinem Leben, das ihn offenbar ganz ausfüllte. Er schien unbeschwert und zufrieden. »Bauingenieure sind heute gefragte Leute. Die Städte sind zerstört, die Industriebauten, die Theater und die öffentlichen Gebäude – ich sage dir, das |197| ist ein Beruf mit Zukunft. Jetzt wird ja noch gebaut wie zu Barbarossas Zeiten, aber in ein paar Jahren … Und inzwischen bin ich fertig. Die Leute hier haben ja völlig zurückgebliebene Begriffe von Architektur. Alles nach russischem Muster, pompöse Zuckerbäckerei, winzige Fenster, aber dafür verschnörkelte Fassaden und große Flächen, wo man später die Transparente draufhängen kann. Du mußt dir mal ansehen, wie die Amerikaner heute bauen …« Und er brachte eine Mappe mit Drucken und Fotografien moderner amerikanischer Architektur. Christian sah sich die Blätter an, ließ Pinselsteins enthusiastische und mit Fachausdrücken gespickte Erklärungen über sich ergehen – aber er war nicht bei der Sache. Er dachte erneut: Warum geht es ausgerechnet mir so dreckig? Man muß nur Beziehungen haben. Man muß es nur machen wie der alte Pinselstein: Mein Name ist Pontius Pilatus, ich wasche meine Hände in Unschuld.
Dann kam Roland Münz, es kamen zwei Mädchen und drei junge Männer von der Bauhochschule. Schließlich kam auch die Überraschung, von der Pinselstein gesprochen hatte: Gabi Reinhard. Gabi hatte mit ihnen bis zur elften Klasse die gleiche Schule besucht, war aber dann an die Thomasschule versetzt worden. Ihr Bruder sang im Thomanerchor. Gabi hatte noch immer das lange schwarze Haar, das sie offen trug. Sie war noch schöner, als sie Christian schon damals erschienen war – sie hatte in der 11b als schönstes Mädchen der Schule gegolten. Die Jungen hatten einander eifersüchtig belauert, ob auch keiner bei ihr mehr Erfolg hätte, als man selbst hatte. Aber Gabi war zu allen gleich freundlich gewesen – und gleich unnahbar.
Auch Gabi schien überrascht. Sie gab Christian die Hand, und ihm war, als freue sie sich. Aber dann belegte ihn Münz mit Beschlag.
Münz war der Krösus der Klasse gewesen. Sein Vater war Klavierbauer, die Pianofabrik Münz & Tannhauer hatte unmittelbar nach dem Kriege wieder zu produzieren begonnen. |198| Die Firma hatte Auslandsverbindungen, die Fabrikmarke besaß in vielen Ländern einen guten Ruf. Roland Münz bekam, soweit das im Nachkriegsdeutschland eben möglich war, jeden Wunsch erfüllt, hatte ein schier unerschöpfliches Taschengeld, er hatte manche ihrer gemeinsamen Feten finanziert. Christian allerdings hatte sich fast immer zurückgehalten, ihm lag nicht viel an den Schülergelagen mit billigem Fusel, mit amerikanischen Zigaretten und manchmal mit Mädchen.
»Na«, sagte Münz, »wie gefällt’s dir da unten in der Taiga?«
Christian antwortete einsilbig. Münz hatte wohl auch keine wirkliche Antwort erwartet. Er begann von sich zu sprechen, in jenem gelassen wegwerfenden Ton, den er sich schon an der Penne zugelegt hatte. Er sei in die Firma seines alten Herrn eingestiegen, nichts Aufregendes. Aber man könne es sich ja leider nicht aussuchen. Und schließlich: up to date müsse man heute überall sein, ganz gleich, wohin es einen verschlägt.
In Wirklichkeit lebte Münz durchaus nicht so beschaulich und ohne Aufregung, wie er es darstellte. Für den, der Ohren hatte zu hören, ließ er das auch durchblicken. Er setzte die Worte so, daß man merken mußte: unter uns, mein Lieber – das ist nun mal die offizielle Version; in Wahrheit aber, du verstehst doch … Sozusagen ein Augenzwinkern in Worten. Christian aber, obwohl sonst sehr hellhörig, verstand nicht. Er hörte nicht, was da unausgesprochen mitschwang: Mein Lieber, wenn die Behörden wüßten … Für eine Firma wie die Pianofabrik Münz & Tannhauer ließ das gespaltene Deutschland nämlich allerlei Möglichkeiten offen. Man hatte seine Verbindungen in beiden Teilen des Landes und über die Landesgrenzen hinaus, man hatte alte Geschäftsfreunde in München und Westberlin, in Hamburg,
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