Rummelplatz
aber heute wußte man ja nie, ob und wann man landete. Pinselstein war allerdings mit einem paragraphenkundigen Vater gesegnet; der Herr Rechtsanwalt wußte genau, wie man durchkam. Der Kleine war da anders. Und für seinen Vater kann ja schließlich keiner.
Die Pinselsteins wohnten nahe dem Völkerschlachtdenkmal. Christian fuhr mit der Linie 15, die Straßenbahn war nur mäßig besetzt. Er war lange nicht in diesem Stadtteil gewesen, die Straßen schienen ihm verändert, die Ruinen anders, als er sie in Erinnerung hatte, die häßlichsten Wunden bedeckte der Schnee. Die Straßenverengung hinter dem Ostplatz, die für ihn immer etwas bedrückend Kasernenhaftes gehabt hatte, erschien ihm jetzt freundlich und großstädtisch, und einige der älteren Häuser betrachtete er in freudiger Verwunderung, so als habe er sie noch nie gesehen. Dann fuhr er an der vergoldeten Kuppel der russisch-orthodoxen Kirche vorbei, die in seiner Erinnerung inmitten luftiger Sommerwölkchen über einen blauen Himmel schwamm, vorbei am Gelände der Technischen Messe und dem Durchblick zur Deutschen Bücherei. Einer seiner Lehrer hatte im Jahre sechsundvierzig nachdrücklich verlangt, daß man die Russische Kirche ab sofort in Sowjetische Kirche umbenennen müsse; der Ausdruck ›Russe‹ sei ein Schimpfwort, es gebe nur Sowjetmenschen.
|195| Am Friedhofsweg stieg er aus. Hinter den kahlen Baumkronen stand düster das Denkmal an den Sieg über Napoleon. Ein Mädchen mit einem Schlitten kam, sie hatte den Schal bis über das Kinn hochgezogen. Der Neuschnee auf den Wegen der Vorgärten war sauber beiseite gefegt. Unter einem Dach aus Birkenscheiten hatte jemand den Vögeln Futter gestreut. Aber es waren keine Vögel da. Die Straße war feierlich und menschenleer, und Christian merkte kaum, wie er abbog, in den Vorgarten eintrat, wie er klingelte und eine Weile wartete und wieder klingelte.
Pinselstein öffnete die Tür und sagte zunächst gar nichts. Dann begann er aufgeregt Christians Hand zu schütteln. »Kolossal!« – Das hatte er immer schon gesagt, wenn ihn etwas überraschte. Wirklich, er schien ganz der alte. Er schlug Christian mit der Hand auf die Schulter, mußte sich Mühe geben, um hinaufzureichen, und er sprach auch noch immer das Kauderwelsch, das sie auf der Penne verzapft hatten. »Du kommst gerade richtig. Großer Budenzauber. Meine Herrschaften sind verreist.«
Vorläufig war noch niemand da. Aber Pinselstein versicherte, Münz würde auf jeden Fall kommen und wahrscheinlich auch – oder nein, er solle sich mal überraschen lassen. Ferner ein paar Leute von seiner Bauhochschule, ganz brauchbare Mannen. Ja, es habe alles geklappt wie am Schnürchen, der Einzug in die Gefilde der Baukunst. Nur Münz, der Unglücksknabe, hatte mit Zitronen gehandelt. Mit einer Vier in Gewi durfte man getrost alle Hoffnungen fahrenlassen, da nützten die blanken Einsen in Mathe, Physik und Chemie überhaupt nichts.
Sie waren in das große Wohnzimmer gegangen, die gläserne Schiebetür zu Rechtsanwalt Pinselsteins Arbeitszimmer stand offen. Im Radio sang Bully Buhlan das Lied von den Würstchen mit Salat.
Auf dem Schachtisch im Erker waren die Figuren aufgebaut, handfeste Bronzefiguren, die der Anwalt im Krieg aus |196| Frankreich mitgebracht hatte. »Was meinst du«, fragte Pinselstein. »Schieben wir eine?«
Bei der Auslosung zog Christian Weiß. Er eröffnete mit dem Königsbauern. Beim vierten Zug bereits geriet er in Tempoverlust, er spielte unaufmerksam. Er fand sich in einer wohligen Müdigkeit und Trägheit. Eine Standuhr tickte in einem verschnörkelten, von der Zeit gedunkelten Gehäuse. Als Kind hatte Christian geglaubt, in diesen Uhren müsse ein seltsames Tier wohnen, das die Zeiger dreht in ihrem ewigen Kreis …
»Du bist am Zug«, sagte Pinselstein. Er hatte eine Gabel angesetzt, sein E-Bauer bedrohte Springer und Läufer. Christian lachte. Er spielte ohne allen Ehrgeiz. Pinselstein stand auf, holte Gläser, zauberte dann eine Flasche sowjetischen Wodka herbei und erklärte, sein alter Herr sei mit diesem Stoff ausreichend versorgt. Ob der Rechtsanwalt wirklich nichts dagegen hatte, wenn sie seine Hausbar plünderten? Sie tranken ihre Gläser auf einen Zug aus, der Wodka brannte in der Kehle, er durchprickelte den Körper mit angenehmer Wärme und Leichtigkeit.
Er hat es gut hier, dachte Christian. Hat sein Studium, hat eine Wohnung, um die die Bomben einen Bogen gemacht haben, er braucht sich nicht die Knochen
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