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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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und Sohn als zwischen dem Jungen und dem Älteren. Diese Spanne aber war allgemein und überall. Sie war genauso zwischen ihm und dem Steiger Hermann Fischer wie beispielsweise zwischen Peter Loose und dessen Stiefvater, jedenfalls nach allem, was Loose darüber erzählt hatte. Sie war allgemein, nur ihre Erscheinungsform war unterschiedlich. Christian hatte allerdings nicht bemerkt, daß sich seines Vaters Verhalten ihm gegenüber seit dem vergangenen Spätsommer doch merklich verändert hatte. Nämlich: Nach dem Tode seiner Frau hatte sich der Professor auf seinen Sohn konzentriert, wenn auch in den Grenzen und mit all den Inkonsequenzen, welche die Nachkriegsereignisse, die er nicht zu durchschauen vermochte, für ihn mit sich gebracht hatten. Nun aber war er allein – und er begann das zu spüren. Er hatte manchmal in Christians Zimmer gesessen, auf dem schmalen Metallbett, hatte das Bücherregal betrachtet und in alten Schulheften geblättert. Und hatte gedacht: Großer Gott, was haben wir denn getan? Wir haben sie schlecht vorbereitet auf die Welt – und haben die Welt schlecht vorbereitet für sie. Wir haben die falschen Propheten gewähren lassen und spüren es an unserem eigenen Fleisch und Blut, nun uns andere die Augen öffnen. Aber was können wir denn jetzt noch tun? Kann man überhaupt etwas tun, wo gegen die Dummheit selbst Götter vergebens kämpfen?
    Professor Kleinschmidt begann zu sehen, wievieles er in seinem Leben hätte anders beginnen, anders tun müssen. Und er hatte Angst, sich einzugestehen, daß er es vielleicht sogar vermocht hätte. Er belud sich mit Gründen, die allesamt dem gleichen Wunsch entsprangen: sich selbst die Ohnmacht vor dem Lauf der Welt zu beweisen, das Geworfensein des Menschen in sein irdisches Sein. Er suchte nach der moralischen Rechtfertigung seines gelebten Lebens, glaubte manchmal, sie gefunden zu haben – die modernen |193| Philosophen assistierten ihm – zweifelte aber jedesmal von neuem …
    Für den späten Nachmittag und den Abend hatte sich der Professor bei seinem alten Freund Manthei angesagt, dem Physiologen. Er fragte Christian, ob er mitginge. Man traf sich alle drei oder vier Wochen zur Hausmusik. Manthei spielte das Cello, der Physiker Dietrich Gutzeit und Dr. Straube von der Musikschule die Violinen. Kleinschmidt selbst widmete sich mehr schlecht als recht dem Klavierspiel – das Cembalo lag ihm mehr. Aber sein eigenes Instrument, ein Erbstück noch vom Großvater her, war, wie so vieles andere, den Bomben zum Opfer gefallen. – Professor Kleinschmidt war in der Polyphonie und im Formempfinden des 17. und 18. Jahrhunderts erzogen worden, im Generalbaßspiel und der Kunst des Kontrapunkts. Er war aufgewachsen mit Johann Hermann Schein und Heinrich Schütz, mit Dietrich Buxtehude und Georg Philipp Telemann, mit dem jüngeren Benda, den großen Italienern, und natürlich mit den Meistern Bach und Händel. Im Hause Manthei hingegen pflegte man die Werke späterer Meister, vor allem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das war eine Welt, in der Kleinschmidt sich nicht recht zu Hause fühlte. Für ihn verlor die Musik nach Mozart ihre architektonische Klarheit. Zu Manthei hatte er einmal gesagt: Wenn ich Beethoven höre, habe ich das Gefühl, eine Lokomotive kommt auf mich zu.
    Christian seinerseits hatte nicht die geringste Lust, den alten Herren am Abend Gesellschaft zu leisten. Früher, als er noch hin und wieder Blockflöte spielte, war er manchmal mitgegangen. Man musizierte, erzählte zwischendurch Anekdötchen, reimte Schüttelverse – ein alter Leipziger Verleger besaß die unbestrittene kleinsächsische Meisterschaft auf diesem Gebiet –, politisierte zuweilen auch und behandelte ihn, soweit es nicht um Dinge ging, die vom Notenblatt ablesbar waren, als nicht zuständig. Nein, sollten sie ihren Neujahrspunsch ohne ihn trinken, ihre aufgewärmten Anekdoten |194| allein belächeln. Christian hatte das Prinzip ihrer Anekdotenproduktion ohnehin schon im vergangenen Sommer entdeckt. Man nehme einen wenig bekannten Ausspruch aus Büchmanns Zitatenschatz und lege ihn, nach Bedarf leicht aktualisiert, Eisenhower, Stalin, Pieck, dem Oberbürgermeister von Leipzig oder dem berühmten Mann auf der Straße in den Mund – fertig. Gegenseitig tat man, als wüßte man nicht.
    Nein, Christian würde den kleinen Pinselstein besuchen, sie hatten sich seit der Entlassungsfeier nicht gesehen. Was aus ihm wohl geworden war? Er wollte Architektur studieren,

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