Rummelplatz
sechsjähriger Pause wieder das Säulenportal betreten – oder nein, das alte Hochschulgebäude war ja zerstört, man befand sich in einer Notunterkunft.
Die Berufung kam überraschend. Neun Monate vorher hatte ein Gespräch stattgefunden – Kleinschmidt hatte ihm längst keinen Wert mehr beigelegt. Damals hatte man ihn |190| gebeten, übrigens schon zum dritten Mal seit dem Jahre sechsundvierzig, wieder an der Hochschule mitzuarbeiten. Meine Herren, mein Gesundheitszustand ist nicht der beste, Sie wissen ja … Er hatte sich regelrecht um den Bart gehen lassen. Schließlich hatte man ihn ja auch gut drei Jahre lang links liegenlassen. Man war bisher ohne ihn ausgekommen – warum sollte er jetzt? Er wußte bis auf den heutigen Tag nicht, daß er nur seines Schwagers Hollenkamp wegen nicht eingestellt worden war. Der Kommission, die über die Neueinstellung der Lehrkräfte zu entscheiden hatte, war diese Familienverbindung zu einem leitenden Mitarbeiter eines der größten deutschen Konzerne nicht recht geheuer vorgekommen. Sie waren durch einen puren Zufall überhaupt erst aufmerksam geworden; eines der Kommissionsmitglieder war vor dreiunddreißig Betriebsratsvorsitzender in einem mitteldeutschen Betrieb der DCG gewesen, den ein gewisser Direktor Hollenkamp geleitet hatte. Was aber stand da in Herrn Professor Kleinschmidts Fragebogen? ›Schwester Marie-Luise, verehelichte Hollenkamp; Ehemann Dr. Theo Hollenkamp, Jurist, soweit mir bekannt ist, beschäftigt bei der Deutschen Chemischen Gesellschaft.‹ Soweit mir bekannt ist, soso! Man wird schon wissen, weshalb man sich seines Herrn Schwagers so wenig rühmt. Übrigens, war der Herr Professor nicht nach seinen eigenen Angaben schwer herzleidend? Da ist ja das Attest: Koronarsklerose, Angina pectoris. Na bitte. Unter den gegebenen Bedingungen empfiehlt sich eine vorläufige Zurückstellung.
Aber die Kommission war inzwischen aufgelöst, ein Vermerk über den Grund der Zurückstellung fand sich in den Akten nicht. Bis auf diese Herzgeschichte. Herzkrankheiten, Herr Kollege, haben heutzutage ziemlich viele Leute, ich selbst beispielsweise auch. Wir verstehen natürlich … keine übermäßige Belastung … Ihre Partei, die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands, äußert sich übrigens auch in unserem Sinne … und so weiter …
|191| Vermutlich hatte Frau Selle wieder einmal ihre Stubentür offenstehen, man hörte das Radio sehr laut. Deutsche Volkslieder, von einem sentimentalen Bariton gesungen und einer weiblichen Stimme im Diskant. ›Ist noch ein Mensch auf Erden, so möcht ich bei ihm sein …‹ Natürlich, des »Knaben Wunderhorn«. Stand nicht am Anfang des Arnimschen Geleitwortes dieser ulkige Satz; wie hieß es doch gleich? Ach ja, richtig: Sie brachen ab und auf zu ihren Regimentern.
Da erschien auch schon die Ente. Christian half der guten Frau Selle beim Auftragen. Nun noch den Wein aus der HO. Der neue Staat geht mit Abkürzungen beinahe noch großzügiger um als das tausendjährige Reich, und das will schon etwas heißen. Aber der Junge hat keine Ahnung, wie man eine Weinflasche öffnet. Naja, diese Ersatzkorken auch. Alles Ersatz heutzutage. Natürlich, da war das Ding schon zerkrümelt, und die Hälfte schwamm im Flaschenhals.
Aber die Ente war gut. Man hatte ziemlich magere Jahre hinter sich. Erstens waren die Läden leer, und zweitens reichte das Geld ohnehin kaum für das, was es auf die Lebensmittelkarten gab. Professor Kleinschmidt hatte von den wenigen geretteten Wertsachen verkauft, was irgend zu erübrigen war. Mitunter hatte eine Fachzeitschrift einen Aufsatz veröffentlicht – aber es gab ja kaum Fachzeitschriften. Es war gar nicht so leicht gewesen, dem Jungen das Abitur zu ermöglichen – und daß er jetzt selber verdiente, war geradezu ein Glück. Ein Stipendium, falls er immatrikuliert worden wäre, hätte er ja sicherlich nicht bekommen.
Christian dachte: Er schnurrt heute vor sich hin wie ein zufriedener Kater. Er ist alt geworden in der letzten Zeit. Seit Mutters Tod. Und er läßt sich gehen. Wenn sich Frau Selle nicht um ihn kümmern würde, wer weiß. Christians Verhältnis zu seinem Vater hatte sich etwas gebessert, seit er im Erzbergbau arbeitete. Er war nicht mehr so unduldsam, er übersah stillschweigend so manche Halbheit und manche Ausflucht des Professors, manchmal empfand er Mitleid. Ein |192| unpersönlicher Ton hatte sich eingeschlichen. Er selbst empfand es so: Es war weniger eine Spanne zwischen Vater
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