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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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hier nicht ebenfalls um ein gemeinsames Ziel? Gehörten denn die Betriebe und die Maschinen nicht ihnen allen? Und mußten dann nicht alle wollen, daß jeder so viel wie möglich weiß und lernt, um soviel wie möglich vollbringen zu können? Ruth nahm sich vor, einmal mit dem Genossen Nickel darüber zu sprechen.
    In diesem Augenblick riß die Papierbahn in ihrer ganzen Breite an der ersten Presse ab. Das feuchte Papier lief die |225| Preßwalze hinauf, quetschte sich am Schaber zu einem immer dicker werdenden Ballen zusammen; das abgerissene Ende der Bahn verschwand in der Trockenpartie. Ruth zerrte die Trillerpfeife aus der Tasche, schwang sich dann auf den Laufsteg über der Maschine.
    Der so ruhige und gleichmäßige Arbeitsrhythmus verwandelte sich nun blitzartig in ein hektisch anmutendes Durcheinander: Der erste Gehilfe kam nach hinten gerannt, drosselte das Dampfventil, zog hinter den Saugern das Spritzrohr heraus und spritzte einen schmalen Streifen von der Bahn; vorn fing der zweite Gehilfe die schleudernde Rolle ab; Ruth zerrte das Ausschußpapier von der Presse; der Maschinenführer kam aus dem Holländersaal, fluchte, trieb zur Eile, fuhr das Spritzrohr zurück; der erste Gehilfe hatte inzwischen den Streifen bis zur Trockenpartie geführt, blieb aber am dritten Zylinder stecken; der zweite Gehilfe holte mit beiden Armen nichtendenwollende Knäuel heißen und noch feuchten Papiers zwischen den Walzen hervor, das wie ein Gebirge in den Mittelgang wuchs; der dritte Gehilfe stampfte den hochgetürmten Ausschußwagen, den ein Gehilfe von der zweiten Maschine belud; der erste Gehilfe hatte inzwischen in die Kalander eingeführt, es war aber niemand da, der einschneiden konnte; als der dritte Gehilfe endlich vom Wagen sprang, riß die Bahn am Kalander wieder ab; mittlerweile hatte sich der Feuchtfilz verlaufen; Flüche, schwitzende Gesichter, ungeduldige Zurufe, Treibriemen flatterten, wirbelnde Papierfetzen, Schreie.
    Ruth hob den Schaber an und legte den Filzstreifen neu ein. Als sie dann beim Fädeneinziehen einmal aufsah, stand Nickel neben dem Maschinenführertisch und schaute ihr zu. Vorn am Kalander schleppten die Gehilfen immer noch Ausschuß aus der Maschine, aber die Rolle schien wieder zu laufen.
    Nickel stand schon eine ganze Weile. Er hatte ihren flinken Bewegungen zugesehen, ihren sicheren Schritten auf dem |226| schmalen Laufsteg; das mürrische Gesicht des Maschinenführers, der die müßigen Herumsteher nicht verknusen konnte, störte ihn heute nicht – schließlich war ja auch ein besonderer Tag. Sie ist wirklich hübsch, dachte Nickel. Und wie schlank sie ist in der straff anliegenden Bluse und der blauen Trägerhose. Als sie von der Maschine herabkletterte, das Gesicht gerötet von der Anstrengung, schien ihm, die Genossin Fischer habe Augen wie Kiesel so blank – wo sie doch tiefgraue Augen hatte, schwarze Pünktchen überm tiefen Grund.
    Die Maschine lief nun wieder ruhig und gleichmäßig. Nickel erzählte, wie das Gespräch verlaufen war. Den Vertrag hatte er gleich mitgebracht. Er erklärte ihr einige juristische Einzelheiten, aber sie hörte nur mit halbem Ohr zu. Lohngruppe V, jaja, und vierzehntägige Kündigungsfrist, wieso denn Kündigungsfrist …? Es war also Wirklichkeit geworden! Vor vier Wochen hatte sie ihren Entschluß gefaßt, hatte alles sorgsam bedacht, hatte nichts überstürzt, und nun war es soweit. Die Halle schien sich plötzlich zu dehnen, die Wände rückten auseinander, die Maschinen waren verzauberte Schiffe, die in die Ferne fuhren, jedes Schräubchen und jede Übersetzung unentdeckte Wunderwerke, dort war die Kommandobrücke und dort voraus die unbekannten Kontinente. Viele Wochen war der Gedanke gereift in ihr, war von Schicht zu Schicht begehrlicher erschienen, aber auch erreichbarer; bis zu ihrem endgültigen Entschluß hatte sie zu niemand darüber gesprochen. Schließlich aber hatte sie es Nickel gesagt, dem Personalleiter. Der war sofort Feuer und Flamme, sein jungenhafter Eifer war auf sie übergegangen, hatte ihr Selbstvertrauen gestärkt. Ach, und es war schneller Wahrheit geworden, als sie zu glauben gewagt.
    Die Nachricht sprach sich mit Windeseile herum. Wohin sie auch kam, teilten sich alsbald die Produktionsarbeiter in zwei Lager; ein kleineres, das für Ruth Fischer Partei ergriff, ein größeres, das die ganze Geschichte je nach Temperament lächerlich oder empörend fand. Von den älteren Arbeitern |227| sagten viele, zu ihrer Zeit sei so

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