Rummelplatz
ließ er, wie immer, aus Prinzip weg.
Nickel hatte geglaubt, er träfe den Produktionsleiter allein an; er hatte ihn ja vorher angerufen und war also angemeldet. Als er jetzt aber eintrat, waren bereits zwei Männer da – offensichtlich warteten sie auf ihn. Es waren der Werkführer Oswald, der in Ruth Fischers Schicht arbeitete, und ein Maschinenführer, den man im Werk überall Sosonaja nannte; an seinen wirklichen Namen konnte sich Nickel nicht erinnern. Sosonaja erklärte dem Produktionsleiter gerade, das neue, sechziggrammige Papier, das er zur Zeit fahre, habe bisher auf jede Tonne Papier eine halbe Tonne Ausschuß gebracht, und die Maschine habe die halbe Schicht gestanden. Jungandres wußte das. Das Zeug laufe nun einmal nicht, er habe das von Anfang an gesagt, aber Vertrag sei Vertrag, da könne er nichts machen. »Soso«, sagte der Maschinenführer achselzuckend, »naja, da müssen wir halt sehen …«
Nun kam Jungandres an den Tisch und forderte sie mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Der Produktionsleiter war ein Mann in den Fünfzigern, aber man sah ihm die Jahre kaum an. Er war von hohem Wuchs und massiger Gestalt, er hielt sich sehr aufrecht, und er machte eher den Eindruck eines Landjunkers, der nach einem ausgiebigen Frühstück gutgelaunt Episoden eines Jagdabenteuers erzählt, als den eines Ingenieurs, der die Fäden eines komplizierten Produktionsprozesses in der Hand hält und Anweisungen erteilt, die Hunderte Arbeiter in Bewegung setzen, gewaltige Maschinen regulieren und schließlich Karawanen von Baumstämmen und Tonnen Chemikalien in Papier verwandeln. Dr. Jungandres litt an einer Hüftverletzung; seit der Operation, die neun Jahre zurücklag, zog er das rechte Bein ein wenig nach. Niemand aber kam auf den Gedanken, daß er des schweren Spazierstockes, auf den er sich bei seinen Gängen durch den Betrieb nahezu unmerklich stützte, wirklich bedurft hätte; alle betrachteten ihn als modisches |219| Attribut, als ausgefallene Extravaganz. Der Stock stand in demselben Range wie die mattgraue Perle, die Jungandres’ Krawatte zierte: beide waren im Grunde überflüssig, aber sie gehörten nun einmal zur Besonderheit der Person des Produktionsleiters.
Das Gespräch begann ohne Umschweife. »Isch glaube«, sagte Jungandres, »wir könnte esch versuche. Allerdings …« Und nun war von Dingen die Rede, die Nickel mit Ruth Fischers Qualifizierung kaum noch zusammenzuhängen schienen. Der Werkführer Oswald warf hin und wieder eine Bemerkung ein; der Maschinenführer wiegte manchmal bedächtig den Kopf und brummte sein »soso« und »naja«. Nickel holte das Zeitungsblatt aus seiner Brusttasche, er zückte sein Notizbuch und überflog noch einmal die Argumente, die er sich aufgeschrieben hatte, aber er fand keine Gelegenheit, in das Gespräch einzugreifen. Einmal schien ihm das, was Oswald über die Schwierigkeit, das Auswechseln der schweren Trockenfilze von einem Mädchen leiten zu lassen, sagte, sehr vernünftig; vernünftig schien ihm aber auch, was Jungandres dagegensetzte. Dann wieder schien ihm ein Einwand des Maschinenführers bedenkenswert; durchaus einleuchtend fand er aber auch Oswalds Erwiderung. Und während er noch über diesen Widerspruch nachdachte, war bereits wieder von technischen Details die Rede, und er verlor hoffnungslos den Faden.
Er dachte nun: Sie sind sich ja bereits einig, Jungandres, dieser alte Fuchs, hat sie nur herbestellt, um mir den allwissenden Fachmann vorzuspielen. Natürlich: er will nicht zugeben, daß mein Vorschlag gut ist und auf ganz einfache Weise durchführbar, denn dann müßte er ja auch eingestehen, daß er, der alte Fachmann, schon längst selber hätte auf diesen Gedanken kommen müssen. Nickel hatte ganz vergessen, daß es sich gar nicht um
seinen
Vorschlag handelte, sondern um den Ruth Fischers. Ja, dachte er, er will den Anschein erwecken, als sei die Sache viel komplizierter, als |220| ich es mir träumen lasse. Bei diesem Gedanken mußte er unwillkürlich lächeln. Bitteschön, sagte er sich, soll er sein Vergnügen haben. Schließlich geht es mir ja nicht um einen Triumph. Ich will ja nur, daß es vorwärts, geht; Hauptsache, es kommt alles ins rechte Lot.
Da aber durchfuhr es ihn plötzlich: Oder sollte vielleicht etwas ganz anderes hinter dieser Zeremonie stecken? Irgendein Hintergedanke, eine Falle? Wenn sie der Meinung sind, man könne es versuchen, wozu dann noch diese endlose Besprechung, dieses endlose Für und Wider? Er
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