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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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genau beobachteten Berufsfremde – die Delegationsgruppen beispielsweise, die gelegentlich den Betrieb besichtigten – nur selten. Sie waren beeindruckt von den gewaltigen Maschinen, ihrem stetigen Rhythmus, ihrer Kraft und Präzision, die von einer großen und unsichtbaren Macht gelenkt schienen. Sie gingen dahin in dem tief vibrierenden Geräuschstrom, aus dem manchmal ein schwaches Zischen, ein fernes Gepolter, ein dünnes Klirren wie von Metallketten bröckelte; sie gingen dahin unter der Wärme der unablässig rotierenden Trockenzylinder, die dumpf und drückend über ihnen hing wie ein dickes Tuch.
    Für Ruth Fischer war dies alles vertraut; an der Naßpartie war ihr jeder Handgriff in Fleisch und Blut übergegangen, und auch über ihren unmittelbaren Arbeitsbereich hinaus kannte sie die Funktion vieler Teile, vieler Hebel, Stellräder |223| und Antriebssysteme, sie kannte viele Ursachen für die hin und wieder in der Papierbahn auftauchenden Fehler und Abrisse; sie kannte die Bedeutung der meisten Geräusche, und wenn sich irgendwo ein Ton, eine Schwingung veränderte oder verlor, wußte sie fast immer, was es damit auf sich hatte.
    Die Maschine lief ruhig und gleichmäßig. Ruth beobachtete das Sieb und die Pressen, sie tat dies fast unbewußt; ihre Gedanken gingen andere Wege, ruhig und gleichmäßig, fast so, wie die Papierbahn dahinfloß.
    Kurz nach Schichtbeginn war Jungandres bei ihr gewesen; er hatte sich nach dem und jenem erkundigt, hatte ein bißchen über ihre Pläne gewitzelt, allerdings eher herzlich und schon halb und halb gewonnen, das hatte sie herausgehört. Er hatte sich auch genau erklären lassen, wie sie sich die Ausführung ihres Vorhabens im einzelnen vorstellte. Ruth wußte, daß der Produktionsleiter für Neuerungen und Experimente, für alles, was beispielsweise den Ingenieuren, den Werkführern oder den erfahrenen Leuten im Maschinenpersonal unmöglich oder zumindest zweifelhaft vorkam, zu haben war; Wagnisse reizten ihn. Jungandres war schließlich mit einer seiner ironischen Bemerkungen gegangen, aus denen ein einigermaßen aufmerksamer Zuhörer immer herausfinden konnte, wie die Sache stand: »Nu bräuchte wir bloß noch ein Mittel, daß Sie übers Jahr net heirate und Kinder kriege; das ischt ebe immer das Ende vom Lied.«
    Ruth wußte, daß heute über ihre Sache entschieden wurde. Ihr fiel ein Gedanke ein, der ihr schon am Morgen gekommen war, und wie am Morgen mußte sie auch jetzt wieder lächeln. Heiraten, du lieber Himmel, dazu hat’s noch massenhaft Zeit. Und außerdem … ja, was eigentlich außerdem? Daß der Mann, der ja schließlich dazugehörte, erst noch gebacken werden mußte? Aus der Jugendgruppe war es keiner, auch aus dem Dorf nicht; überhaupt niemand, den sie kannte. Sie hatte auch keine Vorstellung davon, wie er aussehen müßte; höchstens, wie er nicht aussehen dürfte, und vielleicht, wie |224| sein Charakter beschaffen sein müßte – so wie Vaters und doch auch irgendwie anders. Aber vielleicht heiratete sie gar nicht? Es gab so viel zu tun und zu erleben, soviel Interessantes und Wichtiges. Sie hatte ohnehin immer das Gefühl, etwas zu versäumen.
    Andere Mädchen in ihrem Alter hatten ihren Freund, ihren Verlobten, einen, ›mit dem sie gingen‹, kamen doch hier im Wismutgebiet neuerdings auf ein Mädchen sechs oder sieben Männer. Ruth hatte sich bisher nie gefragt, woran es lag, daß ihr keiner gefiel. Das heißt, der eine oder andere gefiel ihr schon, in der Gruppe beispielsweise gab es einige prächtige Burschen – aber das war eben etwas ganz anderes. Was ist das eigentlich, die Liebe? Ruth stellte sich darunter etwas vor, das mit nichts zu vergleichen war, etwas, das den ganzen Menschen erfaßt und die ganze Welt von Grund auf verändert. Vielleicht begegnete sie nicht jedem – und vielleicht begegnete sie gerade ihr nicht? Jedenfalls wußte sie, es mußte etwas Stärkeres sein als alles, was sie kannte. Und alles Große und Starke läßt sich nicht durch Warten erreichen.
    Ob sie schon entschieden hatten? Warum wird über die Zukunft eines Menschen immer von anderen entschieden … Warum darf er nicht wenigstens dabeisein und mitreden? Man mußte das anders machen, etwa so wie die Aufnahme in die Partei: Der Kandidat begründet seinen Antrag, die anderen stellen Fragen, prüfen, wägen; man muß ehrlich alles geben, was in einem ist, aber man wird auch in allem ernst genommen, man braucht einander für ein gemeinsames Ziel. Ging es denn

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