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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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ziehen? Wir sind dem großen Heizer von der Schippe gesprungen, wir haben verdammt Glück gehabt, und nun sind wir unser freier Mann und können gehen, wohin wir wollen. Unterwegs sein, unterwegs sein ist alles. Irgendwohin zu einem Ziel, das man noch nicht kennt. Irgendwohin, denn es ist nämlich Mai, und der Sommer steht vor der Tür, und in jedem Frühjahr kam die Unruhe, sie wird in jedem Frühjahr wiederkommen. Und mit dem Frühling, das ist obendrein wie mit den meisten Dingen auf dieser Welt: Solange man sie hat, solange nimmt man sie hin, und man nimmt sie manchmal schon gar nicht mehr recht wahr. Wenn man sie auf einmal nicht mehr hat, wenn einem beispielsweise irgendwie gleich ein ganzes halbes Jahr fehlt, dann erlebt man die Dinge wieder, und man erlebt sie viel intensiver, als wenn man sie wirklich hätte. Nein, es gab wirklich keinen Grund, die Ohren hängen zu lassen. Man war weiß Gott nicht aus freien Stücken hierhergekommen, und mit Begeisterung schon gar nicht, und nun war das alles vorbei, nun konnte einem Väterchen Wismut den Buckel runterrutschen. Nun konnte man sich endlich nach einer freundlicheren Gegend umsehen. Unter den Töchtern des Landes konnte man sich umtun, konnte sich einen Job suchen nach eigenem Ermessen, sogar die Regierung konnte man wechseln – wie die Dinge nun mal lagen in diesem Land, man konnte auf die Reise gehen und sich von Zeit zu Zeit ein paar Rubel Zehrgeld beschaffen, irgendwie, man konnte wirklich allerhand. Man hatte das alles schon fast vergessen. Man konnte die Dinge sehen, wie man wollte – es gab beim besten Willen keinen Grund. Wahrhaftig nicht.
    Oder vielleicht doch? Was soll man dazu sagen, wenn einem so beklommen ist, allen guten Gründen zum Trotz? Wenn einem diese Gegend hier mit ihren Gesichtern und mit allem, was kein Fremder ihr ansieht und kein Unbeteiligter weiß, wenn sie einem gar nicht so gleichgültig ist, wie man immer gedacht hat? Was, zum Teufel, soll man da sagen?

    |444| Und dann kam alles ganz anders.
    Er war ins Lager gefahren, ins Haus vierundzwanzig, in das Barackenzimmer, das er ›zu Hause‹ nannte; er hatte aber keinen angetroffen dort. Dann war er zum Schacht. Aber auch dort fand er keinen, und niemand war zuständig für ihn, man schickte ihn zur Objektleitung.
    Die Objektleitung war eine Einrichtung, zu der man viel Zeit mitbringen mußte. Er meldete sich irgendwo und wurde nach irgendwo verwiesen, dort schickte man ihn in einen Schalterraum und von dort in ein Vorzimmer, da wartete er eine gute Stunde. Das Vorzimmer war kahl bis auf das Stalinbild und eine an die Wand genagelte FDJ-Fahne, die Fenster schmutzig, undeutlich die Halden dahinter und die Schächte. Als er endlich vorgelassen wurde, kannte er das Zimmer auswendig.
    Der ihn vorließ, war ein junger Mann im Blauhemd, nicht älter als Peter selbst, er hatte aber sehr dünnes Haar und eine dicke Brille; über seinem Schreibtisch hing ein Spruch an der Wand: Hirn der Klasse, Sinn der Klasse, Kraft der Klasse, Ruhm der Klasse – das ist die Partei. Majakowski.
    »Entpflichtung?« sagte der junge Mann. »Entpflichtung, wieso?«
    Peter hatte sich vorgestellt, hatte seine Sorgen vorgetragen, der junge Mann hatte sich nicht vorgestellt, das war seit alters so in allen deutschen Amtsstuben. Da machte die Wismut keine Ausnahme. Da machte auch das Blauhemd keine. Und der Spruch nicht, der an der Wand hing. »Entpflichtung«, sagte der junge Mann, »wie stellst du dir das vor, da könnte jeder kommen.« Und das war eine Neuerung. Man wurde mit Du angesprochen, das war gleich viel unbürokratischer. »Deine Verpflichtung läuft im Oktober dreiundfünfzig ab«, sagte der junge Mann, »also was willst du?«
    Peter hatte das Gefühl, nicht verstanden worden zu sein. Er sagte: »Ich bin als Untertage-Arbeiter eingestellt worden. Und jetzt bin ich nicht mehr bergbautauglich. Also muß ich entlassen werden, denke ich.«
    |445| »Das denkst du«, sagte der junge Mann. »Das wär schön, was?« Er rührte in der Teetasse, die vor ihm auf dem Schreibtisch stand, er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete Peter unverwandt durch seine dicke Brille, und dann schien er sein Urteil fertig zu haben und sagte: »Also schön, ich erklär’s dir. Du hast dich verpflichtet, und Verpflichtungen sind so was wie ein Gesetz. Zweitens: du hast unter Tage gearbeitet, und das kannst du nicht mehr. Also wirst du drittens nach Übertage gehen. Klar? Was bist du von Beruf?«
    »Ungelernt«, sagte

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