Rummelplatz
heraushängen, wenn jemand einen Granatsplitter verpaßt kriegt in den Unterleib, und der Kerl versucht dann die Strippen wieder reinzustecken, bevor er abkratzt. Und wenn sie ihre Granaten durch die Luft fliegen ließen und ihre Schrapnells platzten, ihre Luftminen und Gasbomben, wenn sie ihre Jabos Karussell fliegen ließen oder zum Bajonettangriff antraten, erst ein Stoß und dann ein bißchen umdrehen, und wenn sie ihre Handgranaten in einen Keller warfen und anschließend die Gehirne besichtigten, die da an der Wand klebten, da war es ganz schön gemütlich, Verehrtester! Da konnte man wirklich eine Menge lernen. Und da war man sogar froh, wenn man zur Behandlung gefahren wurde, obwohl das bestimmt kein reines Vergnügen war, besonders mit solchen Geschichten im Ohr.
Na und dann war der jüngere Krieger entlassen worden, und es kam einer, der war mit seinem Erzkipper von der Straße abgekommen, war in eine Schlucht gestürzt, so acht, neun Meter tief. Außerdem hatte die Karre Feuer gefangen. Er schrie fast jede Nacht. Und wenn er nicht schrie, dann |439| röchelte er, oder er phantasierte. Vielleicht in ein Einzelzimmer legen? Tja, das Krankenhaus war nämlich überbelegt. Es wurden zwar überall neue Krankenhäuser gebaut, kurz vor Torschluß hatte der Krieg auch vor dem Roten Kreuz nicht mehr haltgemacht, und es wurden nun also neue Krankenhäuser gebaut, hieß es. Aber die waren wohl noch nicht fertig. Da fehlte vielleicht hier das Material, und dort hatte einer ’ne falsche Zeichnung erwischt, und da hatte sich jemand verplant, und außerdem gab’s sowieso keine Arbeitskräfte. Das stand zwar nicht in der Zeitung, aber es wurde überall erzählt. Von den Ärzten, von den Schwestern, den Patienten und von denen, die von draußen kamen. Und deshalb, verstehen Sie, deshalb lag man hier mit dem Kipperfahrer zusammen, und mit dem alten Krieger, und mit noch einem, dem war ein Loch in den Schädel gebohrt worden, Trepanation, und mit noch zwei anderen.
Ja, so ging er die Straße entlang, immer durch Bermsthal, und das zog sich mächtig in die Länge. Er hatte gar nicht mehr gewußt, wie lang das Nest war. Es war aber noch genausolang wie damals, als er hier angekommen war, vor zweieinhalb Jahren. Und noch immer war die Kirche von Einsturzgefahr bedroht, und noch immer war da der Schlackeplatz, wo einst der Friedhof gewesen war, und noch immer gab es Häuser, deren Türen und Fenster waren über Kreuz mit Latten vernagelt. Und auch der Anschlagkasten hing noch da, der einst der Pfarrgemeinde gehört haben mußte, und er war vollgehängt mit Zettelkram, mit Dekadenaufrufen, Tauschangeboten, Bekanntmachungen. Und dort war auch die endlose Holztafel, die damals der Plakatmaler bepinselt hatte, ES LEBE DIE DDR, und die Kumpels hatten gestanden wie die Salzsäulen, hatten Löcher in die Luft gestarrt und Rauchringe hindurchgeblasen, es war alles noch da. Es hatte sich nichts verändert, ringsum, es war alles beim alten geblieben; geändert hatte sich nur für ihn selbst einiges, Peter Loose. Zweieinhalb Jahre waren vergangen, und man war damals |440| bergbautauglich-untertage gewesen, und das war man nun nicht mehr, und so fort.
Nämlich: sechs Monate sind eine lange Zeit. Und sechs Monate im Krankenhaus sind sogar eine sehr lange Zeit. Und die meiste Zeit von dieser Zeit hatte man Zeit zum Nachdenken. Über all so Sachen. Beispielsweise über die Leute, die einem den Schädel einschlagen – es fehlte immer noch ein Stück Film, gerade dieses Stück, sinnigerweise. Und überhaupt: über das Leben und über die Zeiten und über diese beschissene Welt und so. Und beispielsweise über sich selbst. Und was dabei herauskam, das war, daß man sich fragte, ob denn etwa etwas dabei rausgekommen sei. Und man hatte sich sagen müssen, vorsichtig ausgedrückt, daß es jedenfalls nicht viel wäre. Da hatte man sich denn vorgenommen, daß etwas getan werden müßte, wenn man wieder draußen war. Und dann war man draußen. Und dann war man untertageuntauglich. So war das.
Jawohl.
Aber die meterlange Holztafel, die stand immer noch dort. Auch ein paar Kumpel waren da, die warteten auf ihre Busse. Es war genau wie damals. Bloß stand jetzt nicht mehr ES LEBE DIE DDR auf der Tafel, jetzt stand dort HELFT BRÄNDE VERHÜTEN, oder HELFT HÜTE VERBRENNEN, oder wie diese Losungen so hießen. Aber sonst war alles wie damals. Auch der Bahnhof war noch da und die Bahnhofskneipe, und über die Dächer dieses befremdlichen Dorfes
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