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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Krankenhaus entlassen. Wurde hinausgeschickt in den aufziehenden Sommer, die dicken Wintersachen an, die er getragen hatte bei der Einlieferung. Nach dem Mittagessen wurde er hinausgeschickt, ein Stullenpaket unterm Arm, Rasierzeug, Kamm, Zahnbürste. Und daß er nun untauglich war für den Untertagebau, das hatte man ihm erst am letzten Tag gesagt.
    Erst am allerletzten Tag.
    Ärzte sind Leute, die wissen ganz genau, wo der Patient aufhört und der Zivilmensch anfängt. Weißkittelparade jeden Vormittag, weißwäschene Regatta, segelten sie da vorüber, der Professor, der Oberarzt, die anderen im Kielwasser, eine halbe Bootslänge zurück, segelten sie mit gutem Wind, Stärke sechs mindestens, segelten eilig die Korridore lang: Visite. Auch hieß man hier nicht Loose, oder Herr Loose, oder Müller-Schulze-Meier, hier hieß man Schädelbruch, retrograde Amnesie, halbwegs interessanter Fall. Und dort, Herr Professor, da hätten wir den interessantesten Tumor, neben der contusio cerebri, ganz recht, Herr Professor, und das freie Bett dort, das ist der Exitus von heute nacht. Das muß man sich dann wohl mal herunterphantasiert haben, nachmittags, wenn das Fieber stieg. Ziemlich sensibel, hatte die Schwester gesagt, Schwester Annelies, Karbolmäuschen mit der Gretchenfrisur. Und der Oberarzt meinte: Sensibel? Der? Mit seiner Schlägernatur?
    Natürlich waren sie nicht alle so. Der Professor nicht, auch ein paar von den unteren Chargen. Aber gesagt, gesagt hatte keiner etwas, weder die einen, noch die anderen. Ganz zum Schluß erst, am allerletzten Tag.
    |437| Draußen erwartete ihn niemand. Durch das Portal ging er, geradewegs auf die Straße, und immer die Straße entlang, es war wieder mal ein Aufbruch. Er sah ein paar Kumpels, Gummistiefel sah er, die Frühstücksbeutel mit der Kaffeeflasche, aber er gehörte ja nun nicht mehr dazu. Das ging ihn ja nun nichts mehr an. Und er sah einen Schichtbus, sah den grünen Lattenzaun drüben am Hang und die Postentürme und die Stacheldrahtgirlande, das war alles noch so, wie es damals gewesen war. Ein halbes Jahr; und er hatte gedacht, daß sich alles verändert haben müßte, daß er eine Menge versäumt hätte, daß er die Gegend gar nicht wiedererkennen würde. Es hatte sich aber nichts verändert. Er kam nun nach Bermsthal hinein, auf die lange Dorfstraße, aus dem Gemüsekonsum hing die Freitagnachmittagschlange.
    Natürlich hatte man manchmal etwas erfahren von draußen. Besuchstag, drei- oder viermal war Kleinschmidt gekommen, der Lange, auch mal Heidewitzka, und Spieß, und Radieschen, und Titte Klammergass. Und gegen Ende hin hatte sich sogar der schleimige Mehlhorn blicken lassen, das Bäckergesicht, der war mittlerweile FDJ-Sekretär geworden auf dem Schacht, erwartungsgemäß. Grüße hatte er bestellt, von der Avantgarde, als ob man etwas zu tun hätte mit denen. Und wenn man selber keinen Besuch hatte, da konnte man immerhin zuhören, was die anderen erzählten. Sowieso waren es meist Kumpels, die da kamen; wer von denen hier hatte denn schon Angehörige in der Gegend. Außerdem gab es Zeitungen. Die waren vierzehn Tage alt oder drei Wochen, wenn man sie bekam, aber immerhin. Sicher, man hatte sich früher nie für Zeitungen interessiert. Aber gehen Sie mal ins Krankenhaus, ein halbes Jahr lang, da werden Sie ja sehen. Da liest man sogar die erste Seite. Sogar das Impressum liest man, mein Herr, das ist die Ecke, wo drin steht, wer das Wurstblatt verzapft hat.
    Und überhaupt. Es kommt nämlich ganz darauf an, mit wem man zusammen liegt. Die erste Zeit lag man mit einem, |438| der war Kriegsfreiwilliger gewesen im ersten Weltkrieg, gasvergiftet vor Verdun, Granatsplitter im Schenkel, und im zweiten Weltkrieg war er an der Ostfront, Gefrierfleischorden, Verwundetenabzeichen, ein alter Krieger aus Passion. Und in der Ecke lag einer, der war als Kriegsfreiwilliger in den zweiten Weltkrieg gezogen, bis zum Leutnant hatte er’s gebracht, und in Griechenland hatte er sich einen Tripper zugezogen und auf Kreta einen künstlichen Magen, und dann war er noch in den italienischen Schlamassel hineingeraten, zwei Jahre Kriegsgefangenschaft im USA-Staat Arizona. Wenn die beiden anfingen, da konnte man aber eine Menge lernen. Die kannten alle Krankheiten und alle Verwundungen, und vor allem kannten sie alle Arten von Verrecken. Die wußten, wie es aussieht, wenn man einem ein Bein absägt ohne Narkose, auf einem Verbandsplatz am Montecassino, und wie die Gedärme

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