Rummelplatz
spazierte manchmal ein Sonnenstrahl. Und es war, als hätte jemand ein sehr altes Dorf mit einer sehr schmutzigen Kleinstadt und einer sehr finsteren Fabrik ineinandergerührt und dann zwischen zwei Bergen auf die Erde geschüttet. Da konnte man also auch mal hineingehen in die Bahnhofskneipe und konnte dem Mädchen Ingrid guten Tag sagen. Endlich mal ein bekanntes Gesicht. Das kostete nichts, und das verpflichtete zu nichts. Schließlich hatte man ein halbes Jahr lang kein weibliches Wesen gesehen, die Karbolmäuschen mal ausgenommen.
|441| So also betrat er die Bahnhofswirtschaft.
Es stand aber einer hinter der Theke, den hatte Peter noch nie gesehen. Einer mit Pusteln im Gesicht, allergischen Knötchen, ein pickliger Jüngling mit einem Basedow. Der Appetit verging einem, wenn man den Kerl bloß ansah, und das Bier wurde vor Schreck gleich in der Leitung schal. Er wußte natürlich nichts, der picklige Knabe, hatte von einem Fräulein Ingrid Zellner nie gehört, und er war immerhin schon zwei Monate in diesem Bums beschäftigt. Ob der Herr Kumpel vielleicht ein Bier wolle? Und dann: »Na, Ede, kommste aus ’m Knast?« Das machten wohl die alten Wintersachen, die nicht mehr in die Landschaft paßten. »Ja«, sagte Peter. »Aus ’m Knast.«
Dann kam der Kellner mit seinem Kulitablett, und der erkannte Peter wieder. »Ingrid?« sagte er. »Na Mann, die ist doch schon lange weg. Die hat doch geheiratet. Irgend so ’n Schießer vom Schacht. Wo haste denn so lange gesteckt?« Der Pickeljüngling erklärte es ihm. »So?« sagte der Kellner. Und dann grinste er und sagte zu dem Pickligen: »Naja, das ist nämlich ’n ganz Gefährlicher. Der hat hier mal drei Mann auf einmal verdroschen, und einer davon war ’n steckbrieflich gesuchter Mörder. Das is ’n guter alter Kunde von unserm Etablissemang.« Und zu Peter sagte er: »Tja, mein Lieber, heutzutage muß jeder mal im Knast gewesen sein, sonst ist man gar kein richtiger Mensch. Da brauchst du bloß einen Furz in die falsche Richtung zu lassen, schon bist du drin. Holzauge, sei wachsam, sag ich da immer. So schnell kannst du gar nicht gucken, wie die dich haben.«
»Ja«, sagte Peter. »Genau so war’s bei mir. Eins übern Schädel, und dann ab. Und auch noch von hinten, die Schweine. Ich hab sie gar nicht erkennen können. Da hörst du aber die Engel singen, mein lieber Mann!«
»So was«, sagte der Kellner. »Mit ’m Gummiknüppel?«
»Nee«, sagte Peter. »Mit ’m Erzhammer.« Er sah den Kellner eine Weile aufmerksam an, und als er merkte, daß der |442| Mann zu begreifen anfing und gleich eine Frage fertig haben würde, da ließ er ihn stehen und ging hinüber zur Toilette. Er fand den zerkratzten Spiegel wieder, und er dachte an den Abend, da er hier sein Geld gezählt hatte nach dem Skat mit Hecht und dem Grubenschlosser Richard. Die Toilette war noch genauso finster wie damals, aber sie war nicht mehr so schmutzig, die Wände waren frisch getüncht, und der Sockel war neu geteert.
Er war dann sehr schnell wieder draußen. Er hatte nicht einmal sein Bier bezahlt, aber weder der Kellner noch der Picklige riefen ihn zurück. Er stand wieder auf dem Bahnhofsvorplatz, wo die Busse hielten gegenüber der Tafel mit der Losung, es waren alles alte Bekannte. Sie hat also geheiratet, dachte er. Na, warum, zum Teufel, sollte sie denn nicht heiraten? Irgendwann heiratet vermutlich jeder mal. Da ist sie also heraus aus dem Gezänk ihrer alten Dame. Da wird sie also nun Kinder kriegen und Windeln waschen, und ihre Schleiflackmöbel wird sie freitags mit Möbelpolitur polieren, und morgens wird sie Staub wischen und Deckchen auflegen und so. Und ihre Hände werden nicht mehr so rot sein und durchsichtig von der Kälte des Spülwassers. Aber den Hunger in den Augen, ob sie den wohl je loswird?
Und dann fand er einen Bus, der fuhr hinauf ins Lager Rabenberg.
Überhaupt, dachte er, als er in den halbleeren Bus stieg, überhaupt macht uns das alles nichts aus. Sie hat geheiratet, und das geht uns schon lange nichts mehr an, und auch daß sie uns rausgeschmissen haben, das macht uns nichts, woher denn? Höchstens daß sie es erst am allerletzten Tag gesagt haben. Aber sonst, sonst ist das alles wie fürn Fünfer Wind. Sonst kann uns das überhaupt nicht erschüttern.
Und als der Bus nun abfuhr, als er an der Papierfabrik entlangfuhr und über den Bahnübergang und dann den Berghang entlang, da dachte er: Ist das etwa ein Grund, den Hut über |443| die Ohren zu
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