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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Grabsteine um, wenn draufsteht: Goldstein, Mendelsohn, Leo Augenzahl.
    Bleibt da ein Rest? Ja. Die Frau am Verpackungsautomaten, Persilwerke, Düsseldorf. Kenne ich eine, die sitzt am Fließband, Glühlampenwerk Ostberlin, Arbeiter-und-Bauern-Staat, und du kannst hingehen und Glühbirnen kaufen, falls es welche gibt, und kaufst immer ein Stück mit von ihr, und die sitzt acht Stunden jeden Tag, achtundvierzig die Woche, ob die Kinder krank sind, der Mann vermißt wird, jemand den niegekannten Wohlstand verkündet, also in einer Zweizimmerwohnung lebt sie, Hinterhaus, ringsum Trümmer, da spielen die drei Kinder, und das Geld reicht grad so wie in Düsseldorf oder auch nicht, und dann muß sie noch zu Aufbaueinsätzen, freiwilligen, und zu Kundgebungen und Aufmärschen |477| und Versammlungen, also wenn du das meinst … Aber ihr Chef, der ist jetzt kein kapitalistischer Direktor mehr, sondern ein volkseigener, und der wohnt draußen am Stadtrand, Grünau, bescheidenes Häuschen, Kinder hat er zwei, die spielen im Garten, und einen Dienstwagen fährt er, das ist soweit alles. Übrigens die Gefängnisse sind auch hier nicht leer, keine Spur, und verboten ist manches, ein freundliches innenpolitisches Klima, wie man so sagt, raus darf keiner. Kriegsverbrecher allerdings sind enteignet, das ist wahr.
    Und was kommt nun? Totaler Sozialismus, falls sie’s schaffen, gegen totalen Kapitalismus, die schaffen das bestimmt. Die Demokratie eines Staates ist auch danach zu bemessen, wieviel persönliche Freiheit er seinen Bürgern einräumt, das nebenbei. Soll ich die Faust heben gegen etwas, wenn ich sehe, was dann kommt, ist auch nicht besser?
    Nein, das konnte nichts aufwiegen und nichts erklären, aber es war das letzte, das mitteilbar war, dahinter war jeder allein.

    »Gut«, sagte Vitzthum, »das muß jeder allein entscheiden, ich kann dir da nicht hineinreden. Und wann willst du fliegen?«
    »In vierzehn Tagen«, sagte Lewin.
    Einen Schlußstrich ziehen, das bleibt immer. Vielleicht, daß man sagen kann: Es ist einer nach Deutschland gekommen, ein Mann ist nach Deutschland gekommen, umgesehen hat er sich in Deutschland, und dann hat er Deutschland Deutschland sein lassen und ist wieder gegangen aus Deutschland, es stand da keine Tür offen. Irgendwo steht immer eine Tür offen? Ein Mensch ist da, und der Mensch kommt nach Deutschland. Deutschland zu finden, ist er gekommen, aber er hat nichts gefunden, und dann liegt er irgendwo auf der Straße, der Mann, der nach Deutschland kam. Früher lagen Zigarettenstummel, Apfelsinenschalen und Papier auf der |478| Straße, Hoffnungen auch, ja, manchmal auch Hoffnungen; heute sind es Menschen, das sagt weiter nichts. Und dann kommt ein Straßenfeger, in Uniform und mit roten Streifen, von der Firma Abfall und Verwesung, mit der großen Bombe kommt er diesmal und hinter ihm der mit der Mitra und dahinter die mit der Bibel und dem Marschallstab im Tornister, und die Menschen gehen vorbei, achtlos, resigniert, blasiert, und gleichgültig, gleichgültig, so gleichgültig. Ach ja, wer fragt, wie es sich denn sitzt in dem Zug, wie denn der Komfort sei und welcher Platz einem zugedacht, aber wohin es geht, danach fragt keiner. Und wir gehen an ihnen vorbei, einer geht am anderen vorbei, alle gehen vorbei; wohin sollen wir denn auf dieser Welt? Warum schweigt ihr denn? Warum redet ihr denn nicht? Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt? Warum gibt er denn keine Antwort? Gibt keiner Antwort? Gibt denn keiner, keiner Antwort?
    Da muß der Mensch eine Herkunft haben. Muß der Mensch eine Herkunft haben? Drei Viertel Deutschland und ein Viertel etwas, das in diesem Land zwölf Jahre lang einen gelben Stern trug? Die beruhigende Verkündigung von der bleibenden Statt, die wir nicht haben, da wir die künftige zu suchen hier sind? Und die Briefe, die man schreibt an jemand, durch den man in der Welt ist, und der sich freut über das Lebenszeichen, es in einem Kasten aufbewahrt, um es wieder und wieder zu lesen, die Worte zu lesen um der Schriftzüge willen und der belanglosen Mitteilung: Das Wetter ist schön, und der Rhein fließt immer immer noch? Vielleicht, daß man das sagen kann, und sagen kann: Es hat sich nicht gelohnt. Ein Zimmer kündigen, ein paar Sachen einpacken: dies ist mein Kamm, dies ist mein Briefpapier, da meine Bücher; und eine Flugkarte kaufen, eine Maschine besteigen, einen letzten Blick zurück nicht tun. Einen Schlußstrich ziehen, das bleibt.
    Linden,

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