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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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weil mir so ist. Warum sieht er es nicht und warum ist mir so? Warum ist alles so anders?
    Sie rief ihn an. Der Anlaß war zu geringfügig für soviel Unruhe, sie waren zu erwachsen für Verstimmungen. Seine Stimme am Telefon: zuversichtlich, erregt, drängend. Da erfand sie eine Ausrede, wunderte sich später, wie leicht ihr das gekommen war, sie hatte es so nicht gewollt. Das mußte sie auf sich nehmen: dieses Ausweichen, das sie bei anderen nie verstanden hatte und manchmal verachtete, all die Worte, die verschlossen, statt zu erschließen, diese Verwirrung, die sich nur immer unentrinnbarer verstrickt, je mehr sie gerichtet ist auf sich selbst. Sie dachte: Wenn er jetzt kommen würde – und war froh, daß er nicht kam; wartete, ging im Haus umher, hoffend auf jedes Geräusch draußen, aufatmend, wenn es vorüberging. Sie dachte: Ich rede mir das alles bloß ein, morgen sieht das ganz anders aus, Kopfschmerzen, zu wenig Schlaf, das ist alles. Und wußte doch, daß da kein Zugang war, der war lange durchschritten.
    Hermann Fischer kam kurz vor Mitternacht, da saß sie in der Küche, ein Buch auf den Knien, hochgewinkelt auf dem mürben Küchensofa, las aber nicht, hatte auch nicht geschlafen. Ihm saß noch die Schicht im Kopf, ein Tag mit Fehlschlägen gespickt, zuletzt der Förderausfall und dann kein Bus mehr – er kramte lange umher, ehe er zur Ruhe kam. Saß dann am Küchentisch, verschloß die Bierflasche umständlich nach jedem Zug, schwieg. Sie hatten oft so gesessen, abends, aber doch nie in dieser hölzernen Wortlosigkeit.
    |485| »Ärger gehabt?« fragte er.
    Aber das wußte er von ihr: dann wäre die Starre nicht, nicht dieses Schweigen. Einmal hatte er gedacht, es sei gegen ihn gerichtet, wenn sie alles in sich verschloß, alles mit sich selbst abmachte, was sie selbst betraf. Aber dann hatte er gesehen: so bin ich selber, und ich kann ihr nicht verübeln, was ich bei mir gutheiße. Das ist kein gewöhnlicher Ärger, dachte er, das ist nicht ihre Art, sich davon so zusetzen zu lassen. Aber was konnte es dann sein? Plötzlich dachte er: der Schwiegersohn. Das hatte er gefürchtet seit langem. Gesagt aber hatte er nie etwas, denn er wußte, daß Ruth seine Abneigung auch so spürte, und daß reden nichts half, solange sie es nicht selber wollte.
    »Nein«, sagte sie, »nichts weiter. Ich soll in die Kreisleitung. Aber ich will nicht.«
    Denn was sollte sie auch sonst sagen? Wo sie die Wahrheit vor sich selbst nicht zugeben wollte: die FDJ-Kreisleitung braucht einen hauptamtlichen zweiten Sekretär, sie will Ruth Fischer gewinnen, Tochter eines alten Genossen und Jungaktivistin, sie setzt einigen Nachdruck dahinter, schaltet auch die Kreisleitung der Partei ein und spricht mit dem Kaderleiter der Papierfabrik. Der aber, vor so massiv anfahrender Autorität, übt Einsicht in die Notwendigkeit, er sagt der Partei in Ruths Namen zu, ohne sie überhaupt erst zu fragen. Windet sich nun, da sie nicht nachgibt. Verliert sein Gesicht. – Die FDJ würde ihren Kreissekretär woanders hernehmen müssen, davon ging die Welt nicht unter, das war zu reparieren. Wenn aber einer nicht begreift, was das ist: Vertrauen. Wenn er nicht sieht, daß man so nicht weggehen kann, Besitzergeste, einfach verfügen, Eigentum, das es nicht gibt in der Liebe, unernst vor diesem Ernst, nicht sieht, was da zerstört ist mit einem Wort, so hingesagt, nicht einmal das begreift, und so wenig weiß von ihr, von ihnen – was bleibt da noch unberührt? Den Satz wird sie lange nicht loswerden: Ich kann mir nicht vorstellen, wie du das begründen |486| willst, ich nicht, was sollen da erst die Genossen denken …
    »Ja«, sagte Hermann Fischer, »bißchen plötzlich, nicht? Kann ich mir schon vorstellen.«
    »Ja«, sagte sie.
    Ja. Und legte nun das Buch beiseite, das nichtgelesene. Als ob da ein Zusammenhang bestünde. Oder als ob die paar Worte genügt hätten. Oder einfach nur: daß er da war. »Ich gehe schlafen«, sagte sie. Und nahm die Strümpfe vom Wäschestern, die sie gewaschen hatte und die da hingen, obschon kein Feuer war im Herd um diese Jahreszeit, und sagte ihm gute Nacht. Gute Nacht, Vater.
    Er saß noch eine Weile. Hörte, wie sie Wasser holte von der Pumpe und wie es dann still wurde im Haus, die Schritte wegblieben in der Kammer über ihm; stillschweigende Gewohnheit, diese letzte Viertelstunde vor dem Schlaf, wenn er in der Baracke saß oben im Lager Rabenberg, oder hier an seinem großen Tisch bedachtsam die Erlebnisse

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