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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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etwas, wenn einer nicht zuhören kann – warum nicht davon? Der Winter verschlägt |470| das Leben in geschlossene Räume, wenn es das wäre, er dämpft und trennt und errichtet das Konkordat der Innenräume, die meisten deutschen Philosophen bevorzugten ihn. Aber wenn es das gibt, dann muß es das Andere geben, jenseits der Angst, jenseits des Vergeblichen, dann muß es die Umkehrung geben, und er weiß natürlich, daß dies nur Logik ist, denen nötig, die sonst platte Fälscher werden müßten unter der Last ihrer Erfahrung, höchstens, daß einer verzichten könnte, aber wer kann sich das leisten, keiner, keiner …
    Dennoch fragt er.
    »Ach«, sagt Vitzthum, »durchaus nichts Überwältigendes.« Als ob nicht alle so anfingen, die das Gegenteil mitteilen möchten.
    »Nissenhütten«, sagt Vitzthum, »Hochbunker, Persilwerke, kleine Eckstampe in der Vorstadt. Und natürlich, wenn unsereiner dorthin kommt, der sieht da bloß, was alle sehen, außer denen, die immer dort sind. Aber später, falls er es soweit kommen läßt, da könnte es angehen. Zum Beispiel: der Verpackungsautomat. Den bedient eine Frau, acht Stunden jeden Tag, achtundvierzig die Woche, diese seit elf Jahren, ob die Kinder krank sind, der Mann vermißt wird, jemand den Nobelpreis ablehnt, und plötzlich siehst du: sie ist eingegangen in dieses Ding, ist Teil geworden, hat sich amortisiert mit ihm, und du kannst nun hingehen und kaufen, und kaufst immer ein Stück mit von ihr. Oder aber Wolfsburg, und richtige Arbeiter, und eine Menge Technik, die ununterbrochen funktioniert, und du kannst dir’s aussuchen, Unfallstatistik oder Industrieromantik, Börsennotierung oder Sozialpartnerschaft. Und natürlich: jeder hat mal davon gehört, jeder weiß es und kennt es, das klingt nach einem anderen Jahrhundert, Ausbeutung beispielsweise – was ist das, höchstens: sie spielt sich auf dem Markt ab, und du mußt schon ein bißchen Glück haben, sonst siehst du wahrhaftig bloß an allen Ecken Konjunktur. Aber ich hatte Glück. Ganz ordinäres Glück. Mit Streik und Versammlung und Demonstration und |471| Polizei. Mit schwafelnden Betriebsräten und Lohnforderungen und Parolen, und einer Menge Leuten, die plötzlich in dieser Ballung und Gerichtetheit wieder Dimension hatten, solche wie die Frau vom Verpackungsautomaten, andere, und mit auffahrendem Wasserwerfer und gezücktem Gummiknüppel und außer Kraft gesetzter Verfassung, so schnell geht das im Ernstfall. Und hast es nun nackt. Zwei Kräfte, einander entgegengesetzt, geradezu klassisch. Und die eine vielleicht nur unterlegen, weil ihr die Richtung fehlte und der Mittelpunkt, weil sie zu wenig Widerstand bot, denn ein richtungsloser Haufe ist unzerschlagbar wie Sand. Nenne es, wie du willst, aber wenn es uns je ernst war, wenn wir je Aktion gesucht haben – dort ist sie. Oder es war doch alles nur geredet, Urteile, die keiner vollstreckt, honorierte Sprüche, die keinem schaden und um die kein Hahn kräht, höchstens, man könnte sie vorweisen als Alibi.«
    »Gott ja«, sagte Martin. »Ein neuer Ansatz für die alten Fragen, die bleiben weiter.« Er stand am Fenster, draußen der schläfrige Sonntag, ihm war das alles längst ins Andere gerückt durch den Filter Zeit. Einmal war’s ihm genauso ergangen, das bricht herein, immer ohne Ankündigung, nie ist einer vorbereitet auf den Moment des Erkennens. Später freilich, wenn Erkenntnis nur noch Einsicht heißt und geebnet wird durch Zuordnung und Einordnung, später beläuft sich’s auf Zurücknahme; Pluralismus sagen die einen, die anderen: praktische Vernunft. Und man sieht: nur der Refrain war unvertraut, Privateigentum, Klassenkampf, ein Schock der Begriffe, sind die erst mal sicher, ist es wieder das Alte, und immer so fort. Veränderbarkeit? Gewiß. Aber bloß in den Formen und bloß peripher, was also kann das und wem nützt es, außer ganz wenigen, ganz wenigen Anführern? »Nein«, sagte Martin, »nicht, daß ich dir’s abrede. Es ist nur: man muß es dort sehen, wo es sich installiert hat. Das Schlechte treffen sie selten und ungenau, denn es ist so robust, wie ihre Mittel sind, aber sie treffen das Gute immer. Das braucht |472| dann viel Zeit, um wieder aufzukommen. Und wenn es ihm gelingt, dann steht dort nichts Besseres und nichts Schlechteres, höchstens, daß jetzt andere im Dunkeln sitzen. Explosionen sind zerstörerisch, das ist ihr Wesen.«
    »Ich weiß«, sagte Vitzthum, »aber ich weiß auch: es gibt Dinge, die zerstört werden

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