Rummelplatz
produzieren und übrigens auch besser. Aber auch er könne nicht glauben, daß Zwang und Administration die richtigen Wege seien dahin – da kann einer manches gewinnen und alles verlieren. Und ferner: Lenin. Das ist so eine Mode: man beruft sich. Es kommt einer nämlich in den Geruch, er habe den Mann auch recht verstanden, wenn er sich immerfort auf ihn beruft. Und man möchte nun wenigstens einmal bedenken, daß dieser Lenin immer wieder mal gesagt hat: Vor aller Theorie war immer noch die Wirklichkeit. »Und wenn die Wirklichkeit sich nicht nach den Theorien gewisser Leute richtet, würde ich nicht sagen: Die Wirklichkeit ist schlecht. Und wenn das Volk überall an den Straßenecken zusammenkommt ohne Aufforderung und eine Neuerung einhellig begrüßt, würde ich mich nicht so ohne weiteres hinwegsetzen über alle und die Neuerung verurteilen.« Sagte Fischer. Und blieb wie immer, hörte seinen Worten nach, blieb ganz ruhig.
Christian freilich, der konnte das Lächeln nicht zurückhalten, es war ihm nämlich gerade ein gewisser Cervantes eingefallen, welcher einmal beschrieben hat, wie es denen geht, welche die Welt verwechseln mit dem, was in Büchern geschrieben steht.
Ja. Und dieser Nickel würde ja nun sicher noch seine guten Gründe haben. Aber er wollte nun wohl nicht mehr heraus damit. Ein beredtes Schweigen, wie man so sagt. Allerdings |581| war das auch ein ziemliches Kaliber gewesen, eine rechtschaffene Abfuhr, das schon. Er sah ziemlich unverstanden aus, wie er dasaß mit der grünen Krawatte über dem gestreiften Hemd, und ein Tropfen Fett von dem Kartoffelpuffer landete mitten im Grün, das merkte er aber nicht. So sprang der Hermann Fischer ja auch für gewöhnlich nicht um mit den Leuten. Und es mußte da wohl noch etwas anderes sein, nicht nur, was nun sichtbar war. Aber das konnte ja eigentlich nur in dieser Richtung zu suchen sein oder in dieser. Und er sah heimlich hinüber zu Fischers Tochter, Christian Kleinschmidt, aber es war ihr nichts anzumerken. Außer daß sie sehr zurückhaltende Augen hatte. Und eine störrische Strähne hatte sie über der Schläfe und ein schmales Gesicht, daß einer sich wohl wünschen könnte, dies Gesicht in beide Hände zu nehmen – jenem Nickel, das muß gesagt werden, würde man das nicht gönnen. Und das hätten wir übrigens nicht gedacht, welche Geschichten an Hermann Fischers Tisch sitzen, und welche Gesichter.
Und Ruth? Wenn einer so ganz ein anderer ist, als man gedacht und gewünscht hat? Wenn alles so still geworden ist und so fremd, daß man nicht mehr weiß, wie einem das Herz geklopft hat? Und wenn man schon nicht einmal mehr Enttäuschung spürt, sondern nur noch diese Gleichgültigkeit? – Und plötzlich kommt einer wieder, der uns weh getan hat wie nie ein anderer Mensch, tritt zur Tür herein, und man weiß nicht, was er will, und will es nicht wissen, und weiß nur: Es war dies ein guter Tag, daran ist nichts mehr zu ändern, und diesen guten Tag wollen wir festhalten in uns, was immer auch geschieht. So ändern sich die Ebenen in uns, und wir werden andere. So ist nichts verloren, wenn einer sich findet, indem er die anderen sucht, und wiederum ihnen sich nähert auf der Suche nach sich …
Später gingen Hermann Fischer und Christian in die kleine Erkerstube hinüber, die auf breiter Konsole das Bild der Mutter Fischer bewahrte – Christian erkannte sie sofort. Unter |582| der Lampe saßen sie, hatten Papiere ausgebreitet und die Teile eines Selbstretters, und Christian wunderte sich sehr, was unter Fischers Händen entstand bei nur geringfügiger Umstellung und Ergänzung, es lag dem zugrunde ein Gedanke von jener Einfachheit, die den Kundigen besticht. So kramte Christian seinen Rechenschieber aus der Tasche und das Reißzeug, setzte Linien in hartem, dünnem Blei, hob Maße herüber mit dem Stechzirkel und entwarf ein Netz von Koordinaten, und hatte die nachdenkliche Falte wieder über der Nasenwurzel, die sein Gesicht so zuverlässig machte. Eine Zahlenkolonne rechnete er dreimal durch, und es ging nicht, und ging dann doch beim vierten Mal. »Schön«, sagte Fischer, »wie das so aufgeht.« Und Christian fragte ihn beiläufig wohl auch, ob das der Schwiegersohn sei, der Genosse Nickel. Und Hermann Fischer wird geantwortet haben: nein; oder gedacht: nicht mehr – und daß er lange nicht mehr dagewesen ist, Nickel. Nicht recht ersichtlich, was ihn ausgerechnet heute hergetrieben hat – oder vielleicht doch? Und übrigens: Er ist
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