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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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lachten mitunter; er ging allein und fröstelte.
    Er zog die altmodische Kapseluhr aus der Tasche: bis zur Abfahrt des Zuges waren noch zwei Stunden Zeit. Mutter wollte nach der Arbeit zum Bahnhof kommen, sie verkaufte von morgens neun bis abends sechs Margarine- und Fettportiönchen in einem Konsum-Laden.
    Er ging langsam durch die Nebenstraßen, dem S-Bahnhof zu. Es wurde nun sehr schnell dunkel, und die Abendschatten krochen aus den Ruinen. Die Straßen waren nicht erleuchtet, auch gab es in diesem Viertel keine Läden, keine Wohnhäuser, keine Gaststätten; nur die finsteren Fronten der Verwaltungsgebäude, viele Ruinen, in einigen Häusern, deren Untergeschosse nicht ganz ausgebrannt waren, hatten sich notdürftig allerlei Organisationen und Behörden niedergelassen. Nickel kannte diese Gegend gut, er hatte oft hier zu tun gehabt. Dennoch fand er sich inmitten der Trümmerberge, die alles gleichmachten, nur mit Mühe zurecht. Vor einem erleuchteten Gebäude patrouillierten sowjetische Posten. Nickel fischte eine Zigarette aus der Joppentasche und bat einen der Soldaten um Feuer. Er wechselte ein paar Worte mit ihm, er hatte das unbezwingbare Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. »Nje«, sagte der Soldat. »Nix sprechen deutsch … Nix deutsch, verstehen?«
    Er kam in eine Straße, die von trüben Laternen spärlich erhellt war. Wenn man diese Straßen entlanggeht, vorbei an den bröckelnden Mauerstümpfen, vorbei an den Schuttbergen, |698| die auf der Straße erstarrt sind wie erkaltete Lavaströme, an geborstenen Fenstersimsen und Schornsteinen vorbei, die grau und uralt in der Dunkelheit hockten; wenn man die Silhouette der Stadt gegen den farblosen Abendhimmel sieht, der keine Sterne hat, dann spürt man den Mörtelstaub der Jahre auf den Schultern, die versunkene Zeit, die nicht mehr zwischen den Generationen zu unterscheiden scheint. Auch er war mit siebzehn Jahren eingetreten in das Leben der Erwachsenen, das randvoll war von Hunger und Haß, randvoll von Heilgeschrei und Schreckensgeflüster, von Angst vor Bombennächten, vor Blockwarten, vor dem Bolschewismus, vor Gestapokellern, vor dem Ende mit Schrecken und den Schrecken ohne Ende. Angst, die man niedermarschierte, die man durch Maschinengewehre jagte, die man sich aus dem Halse sang. Er hatte den Worten der Führer geglaubt bis zuletzt, den Reden vom Vorrecht der Deutschen, vom Kampf um Lebensraum, von den unbesiegbaren Waffen und der Unbesiegbarkeit der deutschen Armeen, den Reden, die in den Zeitungen standen und den Büchern, die aus den Lautsprechern träufelten und den Mündern der Lehrer; den Uniformen hatte er geglaubt und den Fahnen, den Symbolen und den Idealen, gelobt sei, was hart macht. Das Erwachen war jäh und schrecklich, es riß ihn aus seinen Ruhmesträumen, seinem gläubigen Begeisterungstaumel, allumfassend, ohne Erbarmen.
    Die Feuerlawinen der Stalin-Orgel jaulten in den sumpfigen Niederungen zwischen Oder und Spreewald, der Körperschweiß gefror in den dünnen HJ-Uniformen, Panzerfäuste fielen aus froststarren Händen, vor den schreckgeweiteten Augen bedeckte sich die Erde mit Leichen. Zu kurz geworfene Handgranaten barsten über den Köpfen der eigenen Leute, T34 dröhnten heran, Finger krallten sich in steinharte Erde, zwischen den Kugelgarben der Trommel-M-Pi und dem Urrääh der Schützenketten rasselte der Tod über das Land. Noch einmal davongekommen und im Granathagel der sowjetischen |699| Artillerie ein zweites Mal; dann die Sammelstelle an der Straßenkreuzung, der Kettenhund, die Gehenkten an den schwarzen Ästen, der Erdbunker, in dem sich nachts einer eine Kugel durch den Kopf jagte, Achtzehnjährige, die sich mit Bauchschüssen auf der Erde wälzten, und wieder Angriffe, und wieder Trommelfeuer, wieder Bombenteppiche, wieder das Urrääh und die endlose Front der Panzer, wieder die Erschießungen wegen Feigheit vor dem Feind. Als alles vorbei war, war es zu spät, noch einmal jung zu werden.
    Er ging durch seine Stadt, und es war vielleicht das letzte Mal für lange Zeit. Zum ersten Mal dachte er daran, daß er zweiundzwanzig Jahre alt war. War es denn so lange her, daß er das ABC gelernt und vor dem Rohrstock gezittert hatte? War es so lange her, daß er sich des großen Aufatmens bewußt geworden war, das durch Menschen und Dinge geht, wenn der Frühling in die Großstadt einzieht? Hinter einem blassen Vorhang Vergangenheit sah er einen schmächtigen Knirps in den Hinterhöfen Fußball spielen, zwischen zwei

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