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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Gefälligkeiten für diesen und jenen Kollegen. So war sie ihr ganzes Leben lang gewesen.
    »Ja«, sagte sie. »Und rauche nicht soviel. Kauf dir lieber etwas zu essen, du kannst es brauchen.« »Mach dir keine Sorgen, Mutter.« Sie stand in ihrem abgetragenen Wintermantel auf dem zugigen Bahnsteig, in ihren ausgetretenen Schuhen, sie hob sich auf die Zehenspitzen und drückte seinen Arm. »Wirst du auch alles können, was von dir dort verlangt wird?« Sie verstand nicht viel von seiner Politik, und wenn sie auch an ihren Jungen glaubte, so hatte sie doch das Leben gelehrt, daß einem Arbeiter nichts geschenkt wird. Sie war in ständiger Sorge darüber, daß er nun Beamter geworden war, etwas Besseres. Immer wieder fragte sie, was er denn da zu tun habe, sie verstand nur wenig von seinen wortreichen Erklärungen, aber sie ward nicht müde zu fragen. Hilf, lieber Gott, daß ihm nichts geschieht. Daß die Nazis den Siebzehnjährigen in den Krieg geschickt hatten, hatte sie als das bittere, unabänderliche Los der Armen hingenommen, der kleinen Leute, die nichts ändern konnten. Aber daß er sich nun freiwillig in die Politik mischte …
    Aus dem Bahnsteiglautsprecher schepperte eine schüttere Frauenstimme. Die Mutter kramte ein Päckchen aus der Tasche, sorgfältig verpackt und mit Bindfaden verschnürt. »Es sind ein paar Äpfel drin, und eine Schachtel Keks, und ein paar Zigaretten. Du ißt doch Äpfel so gern …« Er schluckte. »Ich wollte sie für Weihnachten aufheben.« Dann seufzte sie. »Es ist alles so teuer …«
    |705| Er preßte das Päckchen an sich, irgendwo rief eine Stimme: Zurücktreten. Die Lokomotive zog an. Nickel beugte sich aus dem Fenster; die Mutter hielt seine Hand umklammert und trippelte neben dem Zug her. Sie lief bis zum Ende des Bahnsteigs mit, hielt seine Hand, solange sie Schritt halten konnte, und sie lief auch noch, als der Wagen ihr schon davongefahren war. Dann stand sie am Schmalbord des Bahnsteigs, hob die Hand, als wolle sie winken, einen Augenblick stand der Arm reglos, sank dann langsam nieder. Außerhalb der Bahnhofshalle verschwand der Zug sehr schnell in der Dunkelheit. Eine Weile noch waren die roten Schlußlaternen zu sehen, dann verglommen auch sie. Die Mutter stand an der Bahnsteigkante, die Lippen hart aufeinandergepreßt, die Hände schlossen sich schlaff um die Bügel der zerschlissenen Einkaufstasche. Hinter der gefältelten Stirn fuhr noch immer das breite Wagenfenster mit dem schmalen Jungenkopf. Lieber Gott, gib auf ihn acht, er ist doch mein Einziger. Lieber Gott, laß ihm nichts … laß ihm nichts geschehen …

    Frühe Fassung von 1963/1964. Aus: »Erkenntnisse und Bekenntnisse«, Halle (Saale) 1964, S. 49 – 65

2 [Die Mutter]
    Sie stand in ihrem dunklen Kopftuch schmal und verhärmt vor einem Kino-Plakat, ›Die Mörder sind unter uns‹. Das schmutzig-gelbe Bahnhofslicht machte sie noch bleicher, als sie ohnehin war, und Nickel empfand schmerzlich, wie alt sie aussah; mein Gott, sie war doch erst fünfundvierzig …
    Er löste für die Mutter eine Bahnsteigkarte und holte seinen Holzkoffer. Dann tranken sie am Kiosk ein Heißgetränk, das aufdringlich nach Sacharin schmeckte. Die Mutter schaute ihm still zu, wie er den heißen Pappbecher zwischen seinen |706| klammen Händen zum Mund führte. Ist das der Abschied, vor dem er sich fürchtet?
    Und nun standen sie auf dem zugigen Bahnsteig, inmitten der vielen Menschen, der Zug war noch nicht eingefahren. »Schreib mir bald«, sagte die Mutter. Sie hielt seinen Arm. »Und paß auf dich auf …«
    Er ist zweiundzwanzig Jahre alt, er hat Kämpfe erlebt, sehr viel Leid, und auch ein wenig Freude. Geweint hat er fast nie. Und er spürt ein bitteres Würgen in der Kehle, und der Bahnsteig verschwimmt vor seinen Augen.
    Eine schüttere Frauenstimme schepperte aus dem Lautsprecher; langsam lief der Zug ein. Junge Burschen sprangen auf die Trittbretter, rissen die Waggontüren auf, noch bevor der Zug hielt. Menschentrauben an den Türen, ein Schieben, Drängeln und Fluchen; Gepäckstücke wurden durch Fenster gereicht, die Deutschen sind ein höfliches Volk, sie drängelten einer den anderen beiseite, rissen Knöpfe ab, trampelten einander auf die Füße. Ein Dicker stieß einem Dünnen den Koffer in die Rippen, zwängte eine Frau beiseite und hangelte sich, wild an der Griffstange zerrend, durch die Tür.
    Nickel und die Mutter standen auf dem Bahnsteig. »Und rauche nicht so viel«, sagte die Mutter. »Kauf dir

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