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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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einen Schrebergarten, einen |695| Meisterkittel, vielleicht eine heil gebliebene gute Stube, wo der Turnvater Jahn oder ein röhrender Hirsch den Fleck auf der Tapete verdeckt, das einzige, was der mit dem Bärtchen hinterlassen hat …
    Plötzlich strafften sich die Reihen. Rechts begannen einige im Gleichschritt zu marschieren, vorn sprangen Trommelschläge auf, die Schalmeienkapelle setzte ein, wann wir schreiten Seit an Seit … Nickel sang leise mit. Er begann, ohne sich dessen bewußt zu werden, im Takt zu marschieren. Schräg vor ihm sang einer nicht mit. Nickel sah, daß er Schaftstiefel trug, schwarz gewichst, das braune Leder war noch zu ahnen. Die Schaftstiefel schlossen sich dem Gleichschritt nicht an. Wenn ich neben ihm ginge, dachte Nickel, ich würde ihm Beine machen.
    Das Stalinporträt schwenkte nach links. Nickel erkannte die Tribüne. Schon von weitem sah er Wilhelm Pieck, das weiße Haar im Wind. Jetzt hob der Präsident die Hand, winkte zu ihnen herüber. Dann verdeckten die Fahnen sein Gesicht. Die Lieder klangen ineinander, Brüder, zur Sonne zur Freiheit, die Schalmeien, Spaniens Himmel breitet seine Sterne. Nickel sang das Thälmann-Lied mit, er mußte singen, was alle sangen. Dann wieder nahm er die Hochrufe auf, die über ihre Köpfe heranfluteten wie eine Brandung. Ewig der Sklaverei ein Ende, auf zum Kampf, das Thälmannbataillon! Die Reihen vermischten sich, alle Marschordnung war zum Teufel.
    Nickel sah sich nach den Schaftstiefeln um, aber sie waren verschwunden. Mädchen in den blauen Blusen der FDJ. Eine Gruppe Westberliner, die ein Schild mit der Aufschrift ›Wedding‹ mit sich führten. Auf der Rückseite stand: West-Berlin wird niemals 12. Bundesland! Und überall Lieder, überall Sprechchöre, überall Hochrufe. Nickel sah die blutrote Fahne der Zelle Neuendorf, eine der wenigen über den Faschismus geretteten Fahnen der Kommunistischen Partei. Auf einem großen hellblauen Banner leuchteten die Namen |696| der Berliner Widerstandsgruppen, der ermordeten Antifaschisten, Christen, Sozialdemokraten, Kommunisten. Es gab keine Orientierung mehr, keine Kolonnen, alles war zu einem einzigen singenden, rufenden, winkenden Strom ineinandergeflossen, der die ganze Straßenbreite ausfüllte.
    Der Strom staute sich. Sie waren vor der Tribüne angekommen, vorn ging es nicht weiter, aber hinten drängten Tausende. Nickel sah zur Universität hinüber, er hatte Mühe, sich gegen die Nachdrängenden zu halten. »Freundschaft! Freundschaft! Freundschaft!« riefen die Mädchen. Nickel stimmte in ihren Ruf ein; er stand eingekeilt in der Menge gute zehn Meter von den Mädchen entfernt, einige der Umstehenden sahen ihn erstaunt an. Die Menge um ihn dröhnte, die Menschen schienen sich mit aller Kraft zu bemühen, eine unsichtbar über ihnen liegende Last hochzuheben; die zwanzig, dreißig Meter zur Tribüne waren von einem wogenden Meer aus Köpfen, Schultern und Armen überschwemmt. Er sah den Präsidenten, viele Funktionäre, die er von Zeitungsbildern kannte oder von Kundgebungen und großen Versammlungen. Wenn er zur Tribüne sah, schwammen die Gesichter um ihn zusammen, verwandelten sich aber sofort wieder in alltägliche Menschengesichter, sobald er den Blick auf seine Umgebung senkte. Die Lieder, Sprechchöre und Hochrufe waren in einen brausenden Lärm geschwollen, der jede Einzelstimme aufsog, emporhob und in eine dicke gellende Wolke geballt über ihren Köpfen brodeln ließ.
    Plötzlich wurde die Menge von einer irgendwo weit hinten entstandenen Kraft gesprengt, ein spitzer Keil Bewegung stieß in die Stauung, sammelte den Druck, eine Gasse öffnete sich, Nickel wurde vom Strom erfaßt und vorwärts gespült.
    Er fand sich ein ganzes Stück unterhalb der Tribüne wieder – es war ein einziges Schieben, Drängeln, Geschobenwerden, Ausweichenwollen, Weitermüssen. Der Strom teilte sich, flutete rechts und links in die Seitenstraßen, versickerte. |697| Die Bewegung flaute jäh ab. Nickel stand, aus dem Strom herausgedrängt, allein auf dem breiten Gehstreifen der Straßenmitte. Links marschierte eine geordnete Kolonne vorbei. Rechts kam einer ganz allein mit einer Fahne. Merkwürdig, dachte Nickel, wie komisch ein einzelner mit einer Fahne aussieht. Er fühlte sich verlassen in der plötzlichen Stille, wie ein Anhänger der siegreichen Fußballmannschaft, der nach dem Spiel allein das Stadion verläßt. Menschen kamen vorbei, zu dreien, zu vieren, größere Gruppen, unterhielten sich,

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