Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
Vom Netzwerk:
auch hatten ihm seine Kollegen auf dem Bau die Arbeit nicht gerade erleichtert. Mit drei Fingern an der linken Hand gibt man nun einmal keinen guten Bauarbeiter ab. Nein, das Nachkriegsdeutschland hatte ihm keine Rosen auf den Weg gestreut. Der einzige, der ihm damals geholfen hatte, war Coburger gewesen, Fritze Coburger. Nickel kannte ihn seit seiner Lehrzeit. Fritze Coburger war in der Antifa-Jugend, und bevor Nickel noch recht begriffen hatte, worum es diesem Verein eigentlich ging, hatte auch er seinen Aufnahmeantrag unterschrieben. Wenige Monate später, als er im Gefolge Fritze Coburgers in die Kommunistische Partei eintrat, fühlte er sich schon etwas klüger.
    |693| Damals kamen die merkwürdigsten Leute aus den merkwürdigsten Gründen zur Partei. Ein Nazi-Ortsgruppenleiter aus Oppeln hatte geglaubt, als Mitglied der KPD den Organen der Sowjetarmee, die ihn wegen Mordes an drei sowjetischen Kriegsgefangenen suchten, leichter zu entkommen. Vier Tage nachdem er seine Aufnahme beantragt hatte, war er verhaftet worden … Ferner kannte Nickel einen, der noch nie in seinem Leben ehrlicher Arbeit wegen einen Finger krummgemacht hatte. Er war mehrfach vorbestraft, hatte es aber fertiggebracht, für seine letzten zwei Jahre Zuchthaus, die er wegen Einbruchdiebstahls abgesessen hatte, als Opfer des Faschismus anerkannt zu werden. Anfang sechsundvierzig war er plötzlich mit einem Parteiabzeichen am Mantel herumgelaufen, hatte allerlei abgestempelte Papierchen in der Tasche und nannte sich ›Beauftragter für Erfassung‹. Die Herrlichkeit hatte ein halbes Jahr gedauert.
    Nickel war im Winter sechsundvierzig Angestellter in einer Lebensmittelkartenstelle geworden. Danach kroch er als Flurschutz-Mann nachts auf den Feldern der Berliner Randgebiete umher, wurde im folgenden Winter Beauftragter für Wohnraumbeschaffung, organisierte Lebensmittel für Berliner Großbetriebe, avancierte zum Abteilungsleiter in einem Bezirks-Arbeitsamt, wurde Erzieher in einem Werkhof für schwererziehbare Jugendliche. Er war einundzwanzig Jahre alt. Dann schickte ihn die Partei auf die einjährige Verwaltungsschule. Nun ja, und ab morgen wird er als Personalleiter in irgendeiner erzgebirgischen Papierfabrik arbeiten, Papier-Werke Bermsthal VEB, so hieß die Bude. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie, woraus und womit Papier gemacht wird.
    Der Demonstrationszug kam in die Nähe der Tribüne, und Nickel sah bereits die Fahnen, die der Wind bauschte. Über den Ruinen flog ein Schwarm Möwen ein und kleckerte weiße Pünktchen in die Trümmer. Nickel ging jetzt nahe dem Straßenrand. Vor ihm wippte noch immer das große Stalinporträt. |694| Der Mann neben Nickel sagte: » Det is jut, des der Willem Präsident is.« – Ein anderer, mit tiefen Augenringen: »Wer denn sonst? Wat haste denn jedacht?« – Wieder der erste: »Ich mein man bloß. Gibt ja ooch andere. Der Jrotewohl oder der Leipziger Lenin oder Fritze Ebert …«
    Unter den Linden. Man denkt an preußische Gardeoffiziere, an Kaleschen, Fichtes Reden an die deutsche Nation, Parademärsche, die alten Baumeister, Hohenzollernwappen, Bürgersleute beim Sonntagsspaziergang, S. M. der Kaiser, Mietbänke, preußischen Wichs und preußische Gründlichkeit, unsere Kolonien, Knobelsdorff und Paul Lincke, Studenten, Reifröcke, Berliner Luft Luft Luft; merkwürdig, an die Achtundvierziger und den November achtzehn denkt man nicht.
    »Pieck oder Jrotewohl«, verkündete Nickels Nachbar zur Rechten. »Ick krieg meine Gören nich mit Zeitungspapier satt.«
    Von den Linden ist nur der Name geblieben. Verschwunden aller Glanz und alle Herrlichkeit. Schmutzige Ruinen, graue Fassaden, die Straße sehr breit und sehr trist. Die öde Weitläufigkeit macht den trüben November noch trüber. Der Himmel hängt wie ein schmutziges Laken an den Zinnen der Schloßruine.
    Ringsum sickern Gesprächstümpel. »Vierzehn Tage lang Überstunden«, sagte einer und »Jetzt muß es doch besser werden«, ein anderer und »Für unsereins wird’s nie besser«, ein dritter. »Ich hab ihn noch beim großen Straßenbahnerstreik gesehen, zusammen mit Teddy.« Das war wieder der mit den Augenringen.
    Nickel dachte: Vierundvierzig haben sie gesagt: Lieber Gott, laß uns mit heilen Knochen aus den Bombenangriffen herauskommen, ein Leben lang trocken Brot wollen wir essen, aber laß uns durchkommen. Das Proletariat hat nichts zu verlieren als seine Ketten, sagt Marx. Die hier haben immer noch etwas zu verlieren,

Weitere Kostenlose Bücher