Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
Vom Netzwerk:
Wäschepfählen; das Hoffenster im Lager des Seifen-Grossisten klirrte in Scherben. Dann sah er sich auf dem Zehnmeterturm des Freibades stehen, unter sich das schrecklich winzige Rechteck des Bassins, die johlende Schar seines Jungzuges am Beckenrand, die heraufhöhnte und gestikulierte zu ihm, der seit zehn Minuten stand und sich nicht zu springen traute. Er begriff, daß es damals begonnen hatte. Und er sah sich bei der Mutprobe für das Fahrtenmesser bäuchlings über dem mit dem Griff in die Erde gerammten Dolch des Fähnleinführers, Liegestütze, auf und nieder, die Arme gewinkelt, bis der Nabel die Dolchspitze berührt, zehnmal, zwanzigmal, bis der Angstschweiß aus den Poren brach, die Ellenbogen sich nicht mehr beugen wollten, die verkrampften Muskeln den Körper über dem Dolch balancierten, und der Fähnleinführer brüllte: Los, noch mal runter, vierundzwanzig Mal! Und ein blauäugiges Mädchengesicht, stolz und unerreichbar über der weißen BdM-Bluse, |700| und die Sonne der Müggelberge ringsum. Sechs, sieben Jahre. Eine Ewigkeit.
    Dann sah er sich im Marschblock der Antifa-Jugend, hörte sich die neuen Lieder singen, aber es war ein Erwachsener, der da sang. Er sah sich mit einer Tasse Lindenblütentee und zwei Kippenzigaretten Nächte hindurch über dicken Büchern sitzen, bis gegen Morgen die Mutter kam und ihm sorgenvoll übers Haar strich, aber sie strich einem Erwachsenen übers Haar. Nicht, daß er dies alles ohne Schwung getan hätte, nicht, daß er dabei nicht von einer Art Begeisterung erfaßt worden wäre – aber es war nicht der Schwung des jungenhaften Abenteuers, nicht die Begeisterung am spielerischen Drang nach Erkenntnis, nicht der jugendliche Rausch des Entdeckens. Alles war bitter ernst.
    Die Straßenlaternen warfen schaukelnde Flecken auf den Asphalt. Es war kälter geworden, und er spürte, wie die Narben an den beiden Fingerstümpfen zu kribbeln begannen. Vor ihm tauchten die feuchten Mauern des S-Bahnhofs aus der Dunkelheit.
    Dann hatte er die Frage WEM NÜTZT ES stellen gelernt. Und hatte gelernt, die Fragen, die Dinge und die Menschen einzuteilen in die Antworten, die er wußte. Nur wenige brachten es fertig, sich der Vergangenheit ungebrochen zu entledigen. Die meisten fingen neu an, ohne mit dem Alten fertig zu sein. Nickel konnte weder ohne Ideale noch ohne Gemeinschaft leben. Er fand neue Ideale und neue Gemeinsamkeit, aber er erwarb sie, ohne die alten Ideale, ohne die tief verwurzelte Bequemlichkeit der alten Gefolgschaftsidee wirklich überwunden zu haben. Diese neue Zeit war zu kompliziert, um ihn, der zwölf von seinen achtzehn Jahren Faschismus eingesogen hatte, bis ins Innerste zu erfassen. Und so war in allem Schwung etwas äußerlich Aufgesetztes, in allem Jugendlichen etwas Ältliches. Oft begnügte er sich mit halben Antworten, manchmal mit halber Verantwortung.
    |701| Als Nickel die düstere Schalterhalle betrat, hörte er über sich das dumpfe Grollen des einfahrenden Zuges. Er suchte in den Joppentaschen nach der Fahrkarte, fand sie schließlich eingeklemmt in eine zerdrückte Zigarettenschachtel. Er ging mit der Fahrkarte durch die Sperre und lief hastig die Stufen hinauf.
    Nickel stieg in den kalten Wagen und setzte sich ans Fenster. Die Wagen waren fast leer, und Nickel fragte sich, wohin sich all die Demonstranten so schnell verlaufen haben könnten. Außer ihm war niemand zugestiegen. Dann schlossen sich die Türen, und der Zug zog langsam an. Nickel lehnte den Kopf gegen das Holz des Fensterrahmens. In der dicken Dunkelheit draußen schwammen ab und zu ein paar Lichter vorbei.
    Er traf die Mutter an der Gepäckausgabe, wie sie es vereinbart hatten. Sie stand in ihrem dunklen Kopftuch schmal und verhärmt vor einem Kinoplakat; das schmutzig-gelbe Bahnhofslicht machte sie noch bleicher, als sie ohnehin war. Nickel empfand plötzlich, wie alt sie aussah; mein Gott, sie war doch erst fünfundvierzig. Sie kam ihm einen Schritt entgegen. Das Filmplakat hinter ihr verkündete: Die Mörder sind unter uns …
    »Da bist du ja«, sagte sie, und: »ich hab schon gewartet.«
    Sie holten seinen Holzkoffer aus der Gepäckaufbewahrung und lösten dann für die Mutter eine Bahnsteigkarte. Ein Menschenstrom durchflutete die Bahnhofshalle, stürzte in die U-Bahn-Schächte, staute sich an den Treppen. Einige Aufgänge waren nur halbseitig benutzbar. Nickel und die Mutter standen etwas abseits an einem kleinen Schalterfensterchen und schlürften ein grelles Heißgetränk,

Weitere Kostenlose Bücher