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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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lieber etwas zu essen, du kannst es brauchen.« Er nickte. »Mach dir keine Sorgen, Mutter.« Die Mutter stand in ihrem abgetragenen Wintermantel, in ihren ausgetretenen Schuhen, drückte seinen Arm. Sie nahm ein Paket aus der Tasche, sorgfältig verpackt und mit Bindfaden verschnürt. »Es sind ein paar Äpfel, und eine Schachtel Keks, und ein paar Zigaretten. Ich wollte sie für Weihnachten aufheben …« Dann seufzte sie und sagte: »Es ist alles so teuer …«
    Männer, Frauen, Kinder. Funktionäre mit ihren Aktentaschen, ihren zerknitterten Bezugsschein-Anzügen, man erkennt sie an ihrer Kleidung, ihrer Art zu sprechen, ihren Bewegungen. Daneben Schieber, schwerer zu erkennen, sie bilden keine einheitliche Kategorie, kommen aus allen Schichten, |707| fast jeder, der aus irgendeinem Grunde in Berlin zu tun hat, besorgt sich irgend etwas in den Westsektoren, kauft und verkauft. Nur die versierten Berufsschieber erkennt man an der Beiläufigkeit, mit der sie sich bewegen.
    Die Mutter hob sich auf die Zehenspitzen und drückte seinen Kopf an ihr Gesicht. »Wirst du denn manchmal ein bißchen an mich denken? Und wirst du auch alles können, was dort von dir verlangt wird?« Sie verstand nicht viel von seiner Politik; sie glaubte an ihren Jungen. Aber das Leben hatte sie gelehrt, daß dem Arbeiter nichts geschenkt wird; sie sorgte sich immer wieder, daß ihr Sohn nun Beamter geworden war, ›etwas Besseres‹. Das ängstete ihre Träume und ließ sie immer wieder fragen, was er denn da zu tun habe, wenn sie auch seine wortreichen Erklärungen nicht ganz verstand. Hilf, lieber Gott, daß ihm nichts geschieht. Daß die Nazis den Siebzehnjährigen in den Krieg schickten, hatte sie als das schreckliche, unabänderliche Los der Armen hingenommen; aber daß er sich nun freiwillig in die Politik mischte …
    Der Rotbemützte lief am Zug entlang und mahnte zur Eile. Nickel drückte das verschnürte Päckchen fest an sich, nahm seinen Koffer, ging am Zug entlang. Die Mutter trippelte mit hastigen Schritten neben ihm her. Die erste Tür, die er zu öffnen suchte, wurde von innen zugehalten. Die zweite war mit einem Koffer verbarrikadiert, dessen Besitzer kategorisch erklärte, es sei alles besetzt. Zur Bekräftigung schnippte er Nickel seine ausgerauchte Zigarette vor die Brust.
    Gegen den Protest eines Eisenbahners versuchte Nickel, sich in die dritte Tür zu quetschen, fand aber keine Lücke. »Es ist alles voll«, sagte die Mutter. »Du wirst nicht mitkommen.« Es klang ängstlich, in ihren Augen aber war ein Schimmer Freude. Nickel ging zur nächsten Tür.
    »Zurücktreten!« schrie der Rotbemützte. »Vorsicht am Zug!«
    Nickel öffnete die Tür und tastete in Dunkelheit. »Na los«, sagte jemand. »Gib die Kiste ’rauf!« Nickel schob den Koffer |708| auf die Plattform. Er umarmte die Mutter, winkte noch einmal, schwang sich dann in den Wagen. Eine Hand streckte sich ihm entgegen, zog ihn empor, er tastete nach dem Koffer, konnte aber nichts finden. »Steht hier«, brummte es aus der Dunkelheit. Nickel sah den Koffer hochkant vor der Klosettür stehen, hinter ihm schlug die Tür ins Schloß. Ringsum hockten Männer auf Koffern und Bündeln. »Mußt eben aufstehen, wenn da einer rein will«, sagte die Stimme von vorhin.
    Der Zug fuhr bereits, und der Lichtschein einer Bahnsteiglaterne huschte über die Gesichter. Nickel spürte den Geruch von Melasse-Schnaps. Der Zug fuhr schneller, das kleine Lämpchen im Gang glühte auf, und allmählich vermochte Nickel die Gesichter zu unterscheiden. Er bemerkte, daß er noch immer das Päckchen an sich drückte. Sie wird jetzt auf dem Bahnsteig stehen und dem Zug nachstarren …
    Heerschau gestrandeter Hoffnungen. Wer die Zwanzig überschritten hatte, reiste nicht gern im Deutschland des Jahres neunzehnhundertneunundvierzig, man war froh, endlich zur Ruhe gekommen zu sein; Endstation am Irrweg einer Nation. Die Bahnhöfe waren nicht mehr vom lockenden Glanz der Ferne bewohnt, ausgeträumt die Romantik der Schienenstränge, entzaubert die Magie fremder Städtenamen. Die Bahnsteige waren nicht mehr Anfang oder Ende der Sehnsüchte, das Unterwegs kein freudiges Abenteuer mehr, die Uhren nicht mehr Knotenpunkte der Zeit. Die Menschen strömten zusammen wie eh und je, aber in ihren Augen glänzte nicht mehr das Fieber des Reisens, die Verheißung unbekannter Flüsse, Berge, Länder und Meere, die großen Hallen waren nicht mehr erfüllt vom unendlichen Raunen der Zeit; es waren

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