Rummelplatz
schleppte sich auf Krücken vorbei. In einer Reihe gingen die eben ausgezeichneten ersten Aktivisten. Einer im Ulster kam. Schalmeienkapellen dröhnten, Holzpantinen heimgekehrter Kriegsgefangener klöppelten das Pflaster. Es gingen Trümmerfrauen. Jünglinge mit lang flatternden Haaren kamen neben Mädchen mit hungrigen Gesichtern, Eisenbahner neben Soldaten, ein Fanfarenzug marschierte auf. In den Ruinen brachen sich Sprechchöre, Fanfarenstöße, knatterndes Fahnentuch im Wind.
Der Präsident sah herab, er sah unzählige Gesichter, sah manchmal ein einzelnes. Er stand inmitten der Mitglieder der |63| neuen Regierung, neben ihm stand der Ministerpräsident. Möwen flogen, Nahrung suchend, beständig ab und zu. Der Präsident lächelte.
Unten zog Nickel. Er trieb im Strom die Straße hinab, Hände in den Taschen seiner Joppe, die Luft war kalt und kroch an den Beinen aufwärts. Nickel ging unter den Leuten, aber er kannte hier keinen. Es waren Arbeiter, das sah er, Metallarbeiter. Es war noch ein Mädchen mit einem versilberten Kreuzchen am Revers dabei, das gehörte wohl auch nicht dazu. Man brauchte auch nur in die Gesichter zu sehen, da war auf keinen Gott zu hoffen. Ein Transparent kam vorbei, das konnte er nicht entziffern. Er ärgerte sich nun, daß er allein gegangen war. Es war anders, wenn man wußte, mit wem man ging. Er hätte noch genügend Zeit gehabt. Aber er hatte schon Abschied genommen, er war schon fort. Er sah über die Köpfe hin, sah ein Stalinporträt, das war auf dünnen Stoff gemalt. Stalins Gesicht wippte lächelnd über geschlossenem Uniformrock.
Vielleicht war es besser so. Man kann nicht ewig die gleichen Ratschläge anhören, die gleichen Hände schütteln, für die anderen war er schon unterwegs. Nur spürte er ringsum, daß diese Leute in einer gemeinsamen Erwartung marschierten, in die er nicht hineinfand. Sie war freudig bei vielen. Er war eher bedrückt. Es war nicht gut, wenn alles offen war. Dieser Tag war nicht gut zum Abschiednehmen. Er nahm sich aber nun zusammen: Er hatte ihn herbeigewünscht, er hatte daran mitgearbeitet; von heute an, wußte er, würde es leichter sein.
Der Himmel hing niedrig über der Stadt, es sah nach Regen aus. Da oben im Gebirge, dachte Nickel, wird vielleicht schon Schnee liegen. Er war nie vorher dort gewesen, er hatte keine rechte Vorstellung. Er war in dieser Stadt aufgewachsen, die war ihm vertraut. Dann kannte er noch das Land bis zur Oder hinüber: Gefangenschaft, Minenentschärfen, drei Finger der linken Hand. Das waren die letzten Kriegstage, |64| und er hatte froh sein müssen, daß er so davonkam. Siebzehnjährig war er heimgekehrt, er hatte das Ende gesehen und keinen Anfang. Vielleicht geht das alles mit, wenn einer hier marschiert. Diese Erwartung ist vielleicht bloß der Halt, den jemand sucht in dem, was nun kommen muß: nichts gänzlich Neues vielleicht, aber doch anders als das, was war.
Er hatte immer geglaubt, daß einmal etwas Festes kommen müsse und Endgültiges, daran man sich halten könnte. Er hatte nur lange nicht gewußt, woher.
Er ging nahe am Straßenrand und sah nun schon die Fahnen vor dem Portal und die Absperrung. Der Wind kam in Böen, fuhr über die Reihen hin, es war schneidend kalt. Das Mädchen mit dem Kreuz war weit abgetrieben. Dicht vor sich sah Nickel zwei Frauen, die abwechselnd ein Kind trugen, das in eine Decke gewickelt war. Hinten kamen welche, die waren aus Sachsen herbeigeschafft worden in einem Sonderzug, er hatte vorhin schon davon gehört. Sie hatten aber einen Abstecher in den anderen Teil der Stadt gemacht, sie trugen Bücklingskisten unterm Arm, mit dem anderen winkten sie. Er sah die Frauen wieder, und er dachte, daß sie das Kind nicht hätten mitnehmen dürfen bei diesem Wetter. Das Mädchen mit dem Kreuz sah er nicht mehr. Es war gar nicht zu denken, was sie suchte bei dieser Demonstration. Aber die Frauen hätten an das Kind denken sollen, dachte er. Welcher von beiden gehörte es wohl?
Dann immer Stimmen, Gesänge, ein paar Sätze Gespräch. Jemand war der Meinung, daß es nun besser werden müsse. Ein anderer sagte, daß es schon paarmal hätte werden sollen, es würde aber nie. Und daß er nicht satt würde von Zeitungsreden. Aber von »Mein Kampf«, sagte der erste. Von »Mein Kampf« bist du ganz schön fett geworden.
Unter den Linden. Knobelsdorffsche Fassaden noch und Schinkelsche und Schlütersche, auch etwas von Schadow. S. M. der Kaiser. Der letzte hieß Wilhelm und floh in
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