Rune der Knechtschaft
aufgerissenen Augen die beiden Frauen an.
Marikani würde nie in Harabec ankommen, dachte Arekh mit befriedigtem Zorn. Die beiden Frauen befanden sich mitten im Protektorat Rez; die Soldaten des Emirs waren auf der Suche nach ihnen. Ihre Geschichte hatte sich im ganzen Land herumgesprochen. Keine Dynastie war in der Feuergegend verhasster als die Kinder des Arrethas. Die Feindschaft zwischen den beiden Landstrichen dauerte schon jahrhundertelang an.
»Ihr wollt einen Rat, ich gebe Euch einen«, verkündete er. »Versucht nicht, die Wälder zu erreichen … Sucht Soldaten, und ergebt Euch ihnen. In den Kerkern des Emirs habt Ihr noch die besten Chancen. Die Straßen sind versperrt, und wenn die Bevölkerung Euch in die Finger bekommt, werdet ihr gesteinigt - oder noch Schlimmeres.«
Marikani sah ihn an, überrascht weniger über seine Worte an sich als angesichts der Angriffslust, die darin mitschwang. Arekh wusste selbst nicht, warum er so wütend war. Er war am Leben und frei, worauf er nicht mehr zu hoffen gewagt hatte, und das verdankte er der Frau, die vor ihm stand. Es war nicht sein Problem, dass die Erbin von Harabec so unbedacht und töricht war. Auch nicht, dass sie todgeweiht war. Er hatte keinen Grund, sich darüber aufzuregen. Dennoch hatte er Lust, jemandem wehzutun. Zuzuschlagen.
Wenigstens mit Worten.
»Die Dörfler machen sich nichts aus Politik«, fuhr er fort. »Sie haben archaischere Instinkte, Aya Marikani. Sie werden sich an den Sumpfkrieg erinnern, an die geplünderten und niedergebrannten Dörfer, an ihre niedergemetzelten Familien. Ich nehme an, dass sie Euch erst vergewaltigen und dann in einem Reinigungsritual opfern werden. Sie werden Euch Nase und Hände abschneiden, bevor sie Euch auf den Scheiterhaufen werfen.«
Marikani zuckte nicht mit der Wimper. »Reizende Aussichten. Aber seht, Nde Arekh, für mein Land ist es besser, wenn ich getötet werde, statt gefangen genommen zu werden. Die Wirtschaft Harabecs würde das Lösegeld nicht überleben, das der Emir fordern würde, und politische Unsicherheit ist für keine Regierung gut. Wenn ich tot bin, wird man mich ersetzen.« Sie lächelte. »Aber so weit ist es noch nicht. Ich werde mein Glück im Wald versuchen.«
Auf seinem Felsen riss der Junge noch immer die Augen auf. Ohne Zweifel hatte er das Gespräch nicht einmal zur Hälfte verstanden.
Arekh seinerseits brauchte keinen Dolmetscher. Er kannte die Einzelheiten aller Verträge, jeglichen Verrats, aller weltlichen Schliche der beiden Völker. Er kannte sie nur zu gut. Er hatte plötzlich die Vision eines Nackh , eines dieser Gräben voll grünem Schlamm, die die Sümpfe des Westens durchzogen und in denen sich manchmal ganze Familien von Schnabelschlangen einnisteten. Die Löcher waren tief: Wenn zwei Männer sich aneinanderhängten, reichten sie doch nicht bis zum Grund. Die Schlangen wuchsen dort heran und vermehrten sich, bis es keinen freien Platz mehr gab: Das Innere des Grabens wurde alsbald zu einer Masse aus klebrigen, kalten Körpern, die sich zusammenrollten, verknoteten und übereinander hinwegglitten.
Manchmal warf man aufmüpfige Sklaven dort hinein, diejenigen Mitglieder des Türkisvolks, die sich nicht eifrig genug ihren Aufgaben widmeten.
Genau so war die Welt von Tanjor, die Welt der drei Monde. Es gab kaum noch freie Flächen auf dem Boden der Königreiche, und die Menschen fraßen sich gegenseitig auf. Könige, Königinnen und Ratgeber verknüpften Intrigen und Verbrechen, die anderen spien Hass und blutige Eifersucht aus, und all diese Leute wurden geboren, paarten sich, starben und verrotteten im Graben.
Arekhs Kleider waren tropfnass; die Sonne, die ihm im Boot so brennend erschienen war, vermochte ihn nicht zu wärmen.
Er sah auf die Kiesel hinab. »Ich werde Euch über die Landstraße bringen«, sagte er zu den beiden Frauen, die ihn musterten. »Der Wald liegt nur ein paar Meilen östlich von hier.«
Die Landstraße, die nach Rez führte, war verlassen. In der anderen Richtung, nach Süden, gelangte man darauf zum Delta des Hers und zu den fünf Freien Städten. Das lange Band aus Pflastersteinen führte an Schleusen vorbei und über Brücken, durch Festungen und Dörfer, bevor es jenseits der bläulichen Mar-hakh-Ebenen verschwand.
Und Harabec erreichte.
So weit war es dorthin nicht. Ein Fußmarsch von etwa fünfzehn Tagen, zu Pferde viel weniger. Die Landstraße war sicher: Die Banditen griffen keine Gruppen von Reisenden an, da sie schwere
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