Rune
bis Dad mich wieder herunterließ, und während er und Mom über verschiedene Möglichkeiten des Pizzabelages debattierten, ging ich auf mein Zimmer. Die Langeweile eines Regentages. Ich blätterte hier durch ein Buch und da durch eine Zeitschrift und arbeitete mich zu einem rechtwinkligen Regal in der Ecke durch. Ich hob ein kleines Flaschenschiff auf. Keiner dieser typischen Kutter, sondern ein Langschiff der Wikinger. Dad hatte es mir vor Jahren geschenkt, nachdem er mir von unserer skandinavischen Abstammung erzählt hatte.
Ich glaube, meine brennende Neugier über unsere Herkunft fing zu der Zeit an, als Roots herauskam. Glücklicherweise war Iris, Dads Mutter, ein unerschöpflicher Vorrat an Informationen. Sie hatte einen Cousin dritten Grades geheiratet, und ein gemeinsamer Vorfahr von Oma und Opa hatte zur Jahrhundertwende die Familie mehrere Jahrhunderte zurückverfolgt. Er wußte alles über den Umzug der Familie von Wisconsin nach Illinois, und daß sie zuvor in Ostkanada gelebt hatten und davor in Neufundland. Er verfolgte uns zurück bis nach Island und Norwegen, wo wir von wirklichen und heißblütigen Wikingern abstammten.
Er entdeckte auch die Herkunft des Namens ›Anderson‹. Die Wikinger, so erfuhr ich später durch meine Bücher über Legenden und Geschichte, machten manchmal aus dem Vornamen ihres Vaters den Familiennamen. Der Sohn des Magnus beispielsweise wurde zu Magnusson, und so weiter. Vor langer, langer Zeit, hatte ein Mann, an dessen Identität Großmutter sich nicht mehr erinnerte, einen Vater namens Handorr gehabt, und so war der Name Handorrsson geboren worden. Dieser Name blieb aus irgendeinem Grund über die Jahre erhalten und wurde im angelsächsischen Sprachgebrauch zu Anderson. Ab und zu, wenn ich besonders stolz auf meine Abstammung war, war ich versucht, meinen Namen in der ursprünglichen Weise zu schreiben. Doch das war leichter gesagt als getan. Der Name Chris Anderson war vermutlich in zehntausenden von Computern im ganzen Land gespeichert, und wenn ich plötzlich Chris Handorrsson hieße, würde ich wohl gar nicht mehr existieren. Egal. In mir war der wahre Stolz lebendig, und nur das zählte. Mein Wissen gab mir ein Zugehörigkeitsgefühl, ein Gefühl für Geschichte, Teil der Geschichte zu sein.
Ich stellte das Schiff wieder an seinen Platz und setzte mich ans Fenster, ganz so wie Aaron. Aaron … er und ich waren der Andersonfamilie irgendwie ein Rätsel. Solche Dinge kommen viel leichter auf, wenn man einen derart ausführlichen Stammbaum besitzt. Während es massenhaft Anderson-Schwestern gegeben hatte, waren wir die ersten Brüder, soweit irgend jemand sich zurückerinnern konnte. Diese Tatsache in Verbindung damit, daß ich zuerst geboren wurde und das charakteristische Blondhaar der Andersons hatte, während das von Aaron braun war, liefert die Grundlagen für die Folter eines jüngeren Bruders. Ich quälte ihn früher gnadenlos damit, daß ich wüßte, wo er wirklich herkäme, und daß ich ihn für immer dorthin zurückschicken könnte, wenn er mir einmal zu oft dumm käme.
Es war die Ironie des Schicksals, daß Aaron es im Leben vermutlich weiter bringen würde als ich. Meine Noten waren keinesfalls auf der Stufe eines Schwachsinnigen, doch seine waren schon immer viel besser gewesen. Außerdem konnte er zeichnen. Und das sehr gut.
Ich kann mich gut daran erinnern, als er das erste Mal auf die High School ging. Trotz unserer unterschiedlichen Haarfarbe sahen wir uns doch ähnlich, und zweifellos waren seine Lehrer zu Anfang sehr besorgt. Vermutlich hatten sie eine jüngere Ausgabe von mir erwartet, war ich doch derjenige, der im Verdacht stand, eine Kirschbombe das Klo hinuntergespült zu haben. Ich war derjenige, der zu Ehren Halloweens jede Toilette, die der Jungen und der Mädchen, mit Klopapier geschmückt hatte. Ich war derjenige, der ein Poster aus dem Penthouse auf die Filmleinwand geklebt hatte, bevor diese entrollt wurde, um dem ganzen Jahrgang einen Film über Verkehrserziehung zu zeigen.
Doch ihre Befürchtungen erwiesen sich als überflüssig. Ein vorbildlicher Schüler, das war Aaron, ein kleiner Yuppie der Zukunft. Und ich kann mir leicht vorstellen, wie all die Lehrer sich in ihrem rauchgeschwängerten Lehrerzimmer versammelten, um darüber zu staunen, wie gut er sich entwickelt hatte, wenn man den Einfluß bedachte, den sein älterer Bruder auf ihn gehabt haben mußte.
Er war ein eigener Mensch. Man würde mehr brauchen als nur mich, um ihn
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