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Rune

Rune

Titel: Rune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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denken, daß Phil das gleiche bevorstand, damit sie unsere Berichte auf Ungereimtheiten abklopfen konnten. Stanton deutete einmal an, daß Rick vielleicht fortgelaufen sei (Phil und ich waren vielleicht achtzehn und frei, doch Ricks achtzehnter Geburtstag war erst im September), in eine Stadt vielleicht, in der er mehr Möglichkeiten für seine Musik sähe, und daß Phil und ich ihm gerade seine erste Titelstory lieferten. Ich verbarg meinen Ärger nicht, als ich Stanton daran erinnerte, daß Ricks Finger zerschmettert waren, seine Gitarren zu Hause standen und er bereits einen vielversprechenden Auftritt gehabt hatte.
    Sonst kam nicht viel bei diesem Treffen heraus. Doch als ich mich von Stanton verabschiedete, erhielt ich etwas von ihm, dessen er sich vermutlich nicht mal bewußt war. Es war, als wüßte er mehr über Tri-Lakes als ich. Und ich spürte, daß er dachte, ich solle mir nicht zuviel Hoffnung machen.
     
    Der Nachmittag kroch langsam weiter und zog sich hin wie eine Ewigkeit. Zeit genug, um nichts zu tun, die Wand anzustarren und Platte um Platte zu spielen, bis die Musik mich anwiderte und ich umsonst versuchte, etwas von dem verlorenen Schlaf der letzten Nacht nachzuholen.
    Es gab auch Zeit zum Nachdenken. Nicht darüber, was geschehen war, sondern über das, was noch auf uns zukam. Ein Gedanke ruhte im verborgenen Teil meines Verstandes, wo man seine schlimmsten Geheimnisse bewahrt, die Dinge, die man nicht vor anderen und nicht einmal sich selbst gegenüber zugeben will. Doch ich wußte, daß ich Rick nie wieder sehen würde. Er war fort, und mit einem Male hing über der Stadt, in der wir aufgewachsen waren, eine dunkle Wolke, die für lange Zeit nicht mehr verschwinden würde. Vielleicht sogar nie wieder.
    Phil würde diesem Schatten in anderthalb Monaten entrinnen, er konnte ein brandneues Leben beginnen. Ich war etwas neidisch auf ihn. Es war, als würde er mich im Stich lassen, doch ich könnte ihm das niemals übelnehmen. Wenn ich nur den Hauch einer Chance gehabt hätte, wäre ich wohl auch übergelaufen.
    Phil, der erste von uns, der aufs College ging. Der Typ, der, so lange ich ihn kannte, stets einen Platz am hinteren Ende des Klassenzimmers vorgezogen hatte, nahe am Fenster. Er hatte zahllose Unterrichtsstunden damit verbracht, aus dem Fenster auf die Welt dahinter zu starren, mit dem Kopf voller geheimer Gedanken – oder gar keinen –, die Stimmen des Lehrers zu einem bedeutungslosen Summen verdammend. Ich bin mir sicher, daß viele Lehrer ihn schon früh als hoffnungslosen Fall abgeschrieben hatten und ihre klinischen, vorgefertigten Phrasen benutzten: Leistungsschwach. Unmotiviert. Und sie hatten vermutlich nie begriffen, wie er es schaffen konnte, als Durchschnittsnote eine solide ›2‹ zu behaupten.
    Nur auf einen Lehrer hatte Phil meines Wissens enthusiastisch reagiert (obwohl er tief im Innern auch eine Schwäche für Mavis Veach hatte, das aber nie zugegeben hätte): einen Lehrer für englische Literatur namens Ben Goddard. Wir hatten ihn in der Unterstufe. Er war ungefähr dreißig, und das sah man ihm auch an, doch er war von der Art, die zumindest noch ein Jahrzehnt so aussehen würde. Er lief herum (und unterrichtete manchmal auch so), als sei er benommen, und das schrieben viele Schüler vergangenen Zeiten des Drogenkonsums zu. Sein sandfarbenes Haar war zerzaust, sein Kopf leicht zur Seite geneigt, und sein Gesicht zeigte einen heiteren Ausdruck und ein versonnenes Lächeln. Den ausgebrannten Ben, so nannten sie ihn. Phil und ich hielten es für wahrscheinlicher, daß er es einfach mochte, sich geistig von einem Ort zu entfernen und andere Menschen zu beobachten. Er schrieb in seiner Freizeit Kurzgeschichten und Gedichte, doch scheinbar mehr zum eigenen Vergnügen als aus Hoffnung auf eine zweite Karriere.
    Mr. Goddard machte gewaltigen Eindruck auf Phil, und ich war nicht besonders überrascht zu hören, daß er entschied, Lehrer zu werden. Goddard hatte Phil mit seinen Beziehungen dabei geholfen, einen Studienplatz auf dem Andrews College zu erhalten, einer Privatschule, die zufällig Goddards Alma Mater war.
    Also war Phil auf dem Weg hinaus und nach oben. Und ich Glückspilz, ich durfte bleiben. Nach all den Gedanken, die ich mir darüber gemacht hatte, ob Phil es in Zukunft zu etwas bringen würde, war ich nun derjenige, der zurückblieb.
    Es war ein mehr als schreckliches Gefühl. Ohne Rick würde das Leben einsam sein. Ich hatte meine Familie und Valerie und

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