Rune

Titel: Rune Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge

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sahen wir ihn blutüberströmt am Boden liegen. Und ich weiß ganz genau, daß kein Baumzweig so scharf sein kann, um den Arm eines Mannes bis auf den Knochen aufzuschneiden. Aber genau das ist passiert. Er ist fast verblutet.«
    Ich sagte nichts; ich dachte noch immer an Wendell, wie er nach einer Flasche schrie. Sicherlich war er nicht so betrunken gewesen, daß er nicht mehr wußte, aus was er getrunken hatte.
    »Wir haben’s schließlich geschafft, die Straße zu verlegen, aber frag’ mich nicht, wie. Dann waren die Bauarbeiter an der Reihe. Ich kannte einen von denen, und er hat mich darüber informiert, was da abgegangen ist, bevor die ganze Sache abgeblasen wurde.« Joe spuckte noch mehr Tabaksaft auf eine Schmeißfliege, die am Straßenrand saß. »Die Dinge wurden von Tag zu Tag schlimmer, bis sich eines Tages einer der Jungs an einem Baum aufhängte. Sie konnten ihn nicht finden, und wenig später baumelt er mit einem Strick um den Hals von einem Ast.«
    Ich schluckte einen Kloß, der drohte, mich zu ersticken.
    »Es dauerte nicht lange, bis die anderen der Meinung waren, sie würden lieber woanders arbeiten. Viele von ihnen meldeten sich krank wegen Sommergrippe. Andere kündigten einfach und sagten frei heraus, daß sie nicht mehr kommen würden.«
    Joe und ich blieben stehen, fast hundert Meter von den Lastern entfernt. Wir fingen an, den staubigen Weg zurückzugehen.
    »Ich weiß nicht, ob das irgendwie zu dem paßt, was bei dir passiert ist. Ich wollt’s dich nur wissen lassen.«
    Oh, und wie es paßte; mehr, als er sich vorstellen konnte! Joe wußte nichts über die Umstände meines Kampfes mit Wendell oder die sonderbaren Schwingungen, die ich gespürt hatte, als ich vor dem größten Baum im Hain stand. Ich hätte den ganzen Lohn des Sommers gewettet, daß es genau jener Baum gewesen war, der Joes Freund verletzt hatte und für den Selbstmord benutzt worden war.
    »Jedenfalls ist das alles, was ich weiß.« Er lachte, doch es war darin kein Humor zu finden. »Bis jetzt habe ich gedacht, ich hätte die Sache längst vergessen. Ich kann alles vergessen, wenn ich es nur will. Frag’ mal meine Frau.« Er nahm seine Mütze ab, zog ein rot-weißes Tuch hervor und wickelte es um seinen Kopf. »Aber als ich die Sache von dir und Phil und eurem Freund gehört habe, dachte ich nur: ›Oh, Scheiße, gerade als ich glaubte, nie wieder von diesem Ort zu hören.‹ Es tut mir leid, wirklich.«
    Ich spuckte Staub aus und blickte ihn von der Seite an. »Joe, was, glaubst du, ist es? Was stimmt mit diesem Ort nicht?«
    Joe blieb stehen und starrte einfach den Staub und das Unkraut am Wegrand an. Er schlug mehrere Male mit seiner Mütze gegen sein Bein. »Ich weiß nicht, Chris. Ich will es auch gar nicht wissen. Aber ich weiß, daß in dieser Welt Scheiße passiert, für die niemand ’ne Erklärung hat. Sie können noch so viele Tatsachen sammeln, aber wenn es hart auf hart kommt, haben sie keine Erklärungen.«
    »Glaubst du?«
    Er tippte sich an die Stirn. »Ich weiß es. Glaubst du es?«
    Wir gingen einige Schritte, bevor ich antwortete. »So langsam fange ich damit an. Ich habe ja auch keine große Wahl.«
    »Keine Wahl?« Er gab wieder dieses kurze, humorlose Lachen von sich, das so gar nicht zu dem White Trash Joe, den ich bislang gekannt hatte, passen mochte. »Hat irgend jemand eine Wahl?«

16.

    Rick war seit einer Woche verschwunden, und jeder Tag war mir wie zehn vorgekommen. Mindestens. Wenn man wirklich will, daß die Zeit, die man hat, einem länger vorkommt, als sie ist, muß man einfach nur einen seiner besten Freunde verlieren. Nicht zu wissen, was geschehen ist, war das schlimmste daran – Folter durch Ungewißheit. Wenn wir es nur gewußt hätten, die Fragen hätten beantworten können. Das wäre etwas Konkretes gewesen, mit dem wir hätten umgehen können. In den meisten Fällen ist die Phantasie mehr als geübt darin, über die Einzelheiten zu spekulieren. Doch ohne eine Bestätigung ist es nur eine um so schlimmere Folter.
    Phil und ich hatten ihn nicht aufgegeben, noch nicht. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, wie naiv er auch sein mochte, blieb. Wir fuhren durch die Gegend, wann wir konnten, still und frustriert und grübelnd, und aller festliche Glanz, den wir früher mit unseren Ausfahrten in Verbindung gebracht hatten, war in den Schmutz getreten. Wir überwachten die Landstraße nördlich der Stadt, und unsere Augen hielten Ausschau nach einer Bewegung oder einem Stück der