Rune
Haien!«
Rick grinste und nickte, und ein neues Licht strahlte in seinen Augen. Hoffnung. Er war vermutlich der optimistischste Mensch, den ich je gekannt habe.
Ich trank mein Bier aus und wollte Ersatz holen. »Sonst noch jemand?«
»Noch nicht«, sagte Phil.
»Sicher«, sagte Rick. »Wir haben ja nichts Besseres zu tun.«
Ich gab ihm ein frisches. Er hielt die Dose unbeholfen in der linken Hand, während er mit den Fingern seiner rechten versuchte, sie zu öffnen. »Au! Scheiße!«
Ich schüttete mir erschrocken Bier übers Kinn. »Was ist denn?«
»Ich habe mir den Fingernagel eingerissen! Hurensohn!« Er winkelte den Arm an und schleuderte die ungeöffnete Dose in das Wäldchen vor uns. Wir hörten, wie sie von einem Baum abprallte, dann senkte sich völlige Stille wie ein Vorhang herab.
»Hey, komm schon, reg’ dich ab«, sagte Phil sanft, und wir beide traten näher an ihn heran. Wieder schien er nur ein Kind zu sein, dessen ganze Welt plötzlich zu Staub zerfallen ist. Sein Kopf war geneigt, seine Haare verbargen seine Augen, doch er fing an, sie zu reiben.
»Es tut mir leid«, sagte er leise, und seine Stimme brach. »Das waren einfach ein paar beschissene Tage.«
Phil berührte seine Schulter. »Es wird noch andere Gelegenheiten geben. Glaub’ mir, es wird sie geben, und vor allem, wenn du diese Stadt hinter dir läßt und dorthin gehst, wo es richtige Chancen gibt.« Er grinste. »Weißt du, was für einen Mist ich dir hier einrede? Und das alles nur, um dein Ego aufrecht zu erhalten. Ich bin dein beschissenes Gewissen. Und ich warte nur darauf, daß du mir das alles eines Tages heimzahlst. Ich freue mich sogar darauf.«
Rick nickte und zog die Nase hoch. Er ging in Richtung Wäldchen.
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Twang«, sagte ich. »Wir haben noch genug übrig.«
Was immer er auch murmelte, ich konnte es nicht verstehen, doch es hatte vermutlich etwas mit meiner ehernen Weisheit zu tun, daß es eine Todsünde sei, gutes Bier zu verschwenden. Und ich fühlte mich hilflos, weil ich nicht meine wahren Gründe dafür äußern konnte, warum ich wollte, daß er sich von dem Wäldchen fernhielt. Ich hatte etwas Anderes in Tri-Lakes gefühlt, das im Verlauf des Sommers angewachsen war. Etwas, das eine neue Stufe seiner Evolution erreicht hatte. Von dem Moment an, da die Bierdose von dem Baum abgeprallt war, hatte ich es wieder in unserer Nähe gespürt – wartend und zusehend. Ich hielt den Atem an, als Rick im Hain verschwand.
»Gott«, sagte Phil. »Er tut mir so leid.«
»Ja, mir auch.« Meine Antwort kam mehr aus Reflex als aus meinen Gedanken. Ich streckte mich, um Rick zu sehen. Umsonst.
»Dein Witz mit der Slide-Gitarre war übrigens nicht so der Brüller.«
»Halt’s Maul, Phil, ich glaube -«
Und dann schrie Rick. Kurz, aber laut, und wie laut. Und ich war mir nicht sicher, glaubte aber, im Unterholz ein gewaltiges Rascheln zu hören.
»Was zur Hölle?« Phil umgriff meinen Arm, und seine Finger waren wie ein Schraubstock.
»Rick!« schrie ich und wartete einen Herzschlag ab. »Rick! Was ist los?«
Keine Antwort. Das ängstigte mich ohne Ende, denn Rick war nicht in der Stimmung für Scherze gewesen.
Phil beugte sich ins Auto und schaltete die Scheinwerfer an. Sie strahlten in den Hain, erleuchteten die vordersten Bäume und verstärkten die Schatten im Hintergrund. Eine Bühne in Grün und Schwarz, ohne ein Zeichen von Rick. Wir riefen wieder nach ihm; keine Antwort, nicht ein Geräusch.
Phil öffnete den Kofferraum und entnahm einen Wagenheber und ein Stemmeisen. Letzteres überreichte er mir.
»Nun?« In seiner Stimme lag ein Zittern.
Ich atmete hörbar aus und nickte. Wir schritten Seite an Seite in das Wäldchen, mit den notdürftigen Waffen in Bereitschaft. Wir versuchten, alles gleichzeitig zu sehen. Unter unseren Füßen knackten Zweige und totes Laub, und ich zuckte bei jedem kleinen Geräusch zusammen, da auch mich jeden Moment etwas in den Schatten reißen könnte. Wir trennten uns, als wir den größten Baum erreicht hatten; Phil ging nach links und ich nach rechts. Hinter uns stand der Wagen mit hell leuchtenden Scheinwerfern – sicher und beruhigend, die letzte Bastion einer normalen Welt. Vor mir lauerten Schatten und vage Formen im Unterholz. Ich wollte zurück zum Auto rennen und mich nie mehr umdrehen. Ein toller Freund. Doch ich hielt den Atem an, hob das eiserne Werkzeug und ging weiter. Der Wald wurde um mich herum lebendig, und meine Haut
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