Rune
durften schon gehen, lange bevor die Beamten mit irgendwelchen Neuigkeiten zurückkommen konnten. Sie würden sich auch darum kümmern, Ricks Eltern zu benachrichtigen; eine Aufgabe, um die ich mich alles andere als gerissen hätte. Ich fragte mich, wann ich seine Familie wiedersehen würde, und unter welchen Umständen.
Phil und ich verließen die Wache gegen halb eins, und das Leuchten des Straßenlichts war nur ein schaler Trost in dieser schwärzesten Nacht des Sommers. In der Ferne barsten hier und da die Feuerwerke für den Nationalfeiertag.
»Ich nehme an, du willst sofort nach Hause.« Phil sah mich nicht an; das Lenkrad fesselte seine Aufmerksamkeit.
»Ja.« Meine Stimme klang rauh und trocken.
Phil steuerte auf die verlassene Straße, fuhr einige Zeit und lenkte dann wieder an den Rand. Er wandte sich mir zu, und ich sah die großen Tränen auf seinen Wangen, und sein Mund bewegte sich wortlos. Das brach auch den Damm in mir, und ich ließ mich gehen, eine bittere Flut gegen einen Verlust, der erst jetzt wirklich erschien. Ein Leben ohne Rick – eine grausame und bittere Vorstellung, die man nicht mit einem Mal erfassen konnte.
»Was ist dort abgegangen, Chris? Was ist passiert?«
Ich schüttelte heftig den Kopf und biß mir auf die Unterlippe. »Ich weiß es nicht, Mann. Ich weiß es einfach nicht.«
Dann umarmten wir uns verzweifelt auf dem Vordersitz und weinten uns auf die Schultern. Wir waren jenseits von Worten, jenseits von Taten. Nur die Reaktion war noch übrig, und wir krallten uns aneinander, um sie herauszulassen. Denn etwas hatte sich durch die Eierschale unserer Welt gefressen und uns beraubt. Was es auch war, wir konnten es nicht benennen und daher auch nicht begreifen. Und daher konnten wir es auch nicht bekämpfen. Ich glaube, wir weinten auch aus schierer Hilflosigkeit.
Nie zuvor war es so finster.
So sah ich das Haus, als ich in jener Nacht heimkam. Als der Motor von Phils Wagen immer leiser wurde, fummelte ich mit dem Schlüssel herum und bekam die Tür beim dritten Versuch auf. Und dann verschluckte das Haus mich, ebenso wie irgend etwas Rick verschluckt hatte.
Meine Eltern und Aaron waren bereits zu Bett gegangen, die Lichter gelöscht und die Türen geschlossen. Auf dem Haus lastete eine wahnsinnig machende Stille, die nur unterbrochen wurde von kaum hörbarem Knarren, dem rhythmischen Ticken der Standuhr und den Lauten, die alle Häuser in der Stille der Nacht verursachen, wenn sie endlich deine Aufmerksamkeit haben.
Ich schlich leichtfüßig durch die Diele, die Treppe hinauf und den Gang entlang. Ich zitterte aus Ängsten, die in der Kindheit wurzeln und nur begraben, aber nie ausgelöscht werden können – Ängste, daß mein eigenes Heim mir plötzlich fremd sein, zum Aggressor werden und mich irgendwie verschlucken könnte, so daß mich niemals jemand fände.
Und dann der symbolische Höhepunkt dieses Aktes: mein Schlafzimmer. Dunkel und still, mit Streifen von Mondlicht auf den geschlossenen Vorhängen. In jener Nacht bot es weder Trost noch Sicherheit, wie ich beim Ausziehen feststellte. In jener Nacht war es mein Feind.
Es dauerte lange, bis der Schlaf kam, und als er da war, war er durchzogen von kaum erinnerten Alpträumen, endlosen Wiederholungen von Freitag nacht. Als ich am Samstag erwachte, hatte ich kaum den Mut, Mom, Dad und Aaron zu erzählen, was geschehen war, doch ich mußte es ja tun. Es warf einen gewaltigen Schatten über den gesamten Tag. Nachdem meine Eltern ihr anfängliches Drängen, jeden Fetzen Information aus mir herauszupressen, überwunden hatten, fielen sie in eine einsame Starre, in der sie vielleicht über die Sterblichkeit ihrer eigenen Söhne nachdachten und darüber, was die Woodwards jetzt durchmachten. Ich sah von Aaron nicht viel, bis er um zehn Uhr zur Arbeit ging, doch wenn, dann sah er mich mit Seitenblicken an, so daß ich mich wie die Attraktion einer Freakshow fühlte.
Ich rief etwas später im Büro des Sheriffs an. Keine Neuigkeiten. Die Beamten, die in der Nacht zuvor dort gewesen waren, hatten nichts als eine zerrissene und entleerte Bierdose gefunden. Sie waren im Tageslicht zurückgekehrt und hatten noch immer keine Anhaltspunkte. Bald würden sie den Grund des Teiches absuchen.
Später an jenem Samstag wurde ich zur Wache zitiert, um mit einem Ermittler zu sprechen. Sein Name war Stanton, und er schien sehr freundlich. Ich mußte die ganze Geschichte wieder abspulen, und während ich das tat, konnte ich mir
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