Rune
von Illinois zu versuchen. Dort war die größte Bibliothek dieses Landesteils untergebracht, und wenn ich diese Bücher irgendwo südlich von Chicago finden würde, dann dort.
Also machte ich an diesem Morgen eine ungeplante Reise. Der Bücherkatalog der Universität von Illinois war dreimal so umfangreich wie der von Andrews. Mit Schreibzeug in der Hand beugte ich mich über die Schubladen und ignorierte die Schar in Turnschuhen, Kapuzenpullis und Rucksäcken um mich herum.
Als erstes auf der Liste stand das Buch über Williamson, dem ich keine weitere Beachtung schenkte. Weitere Bücher folgten, und die sah ich mir näher an. Eines handelte von der amerikanischen Arbeiterbewegung. Ein weiteres untersuchte Politskandale von den Gründertagen der Nation bis Watergate. Noch eines handelte von der Rolle der Eisenbahn bei der Gestaltung der amerikanischen Geschichte. Es gab noch weitere, doch der Titel, der als letztes publiziert worden war, im Jahre 1979, stach mir sofort ins Auge:
Island von 874 bis 1066: Das Zeitalter der Nordmänner.
Keinesfalls wollte ich glauben, daß der Mann einfach nur im Alter seinen Horizont hatte erweitern wollen. Ich schrieb den Titel auf und arbeitete mich durch scheinbar endlose Reihen von Bücherregalen, mit dem Fetzen Papier in der Hand und versuchend, ein nervöses oder ängstliches Zittern zu unterdrücken, das mich ergriff.
Bis in die fünfziger Jahre wurden keine biographischen Angaben gedruckt. Das Buch über die Eisenbahn, veröffentlicht 1965, gab Indianapolis als Wohnort an, wo er einen Lehrstuhl am Purdue-College innehatte. Dasselbe stand im Buch über die Skandale, das 1976 erschienen war, und mein Herz sank. Indianapolis war weit entfernt.
Doch ein Buch war noch übrig, und dieses schien nicht zu den anderen zu passen. Das letzte Buch. Jenes, das sein Lebenswerk zu krönen schien.
Ich fand es in der Abteilung für europäische Geschichte, und ich hielt den Atem an, als ich es bis zum Ende durchblätterte. Und ich atmete aus, als ich den letzten Satz der biographischen Angaben las. Er wohnte zwar nicht um die Ecke, aber doch ein gutes Stück näher als das unvertraute Gebiet von Indianapolis.
Wikinger, dachte ich zum zehnmillionsten Mal. Es ergibt einfach keinen Sinn.
Ich nahm mir einige Momente Zeit, um das Buch zu überfliegen, und ich raste mit den Augen über Text, Zeichnungen, Karten Westeuropas, Fotos von Land und Wasser sowie zahlreichen Gegenständen, die Archäologen ausgegraben hatten. Und nichts davon konnte ich mit dem in Verbindung bringen, was sich während der letzten Monate in mein Leben gedrängt hatte. Ein kurzer Blick auf den Index und die Inhaltsangabe gab mir noch nicht mal einen Hinweis. Also stellte ich das Buch ins Regal zurück. Und betete, daß der Mann, der es geschrieben hatte, noch am Leben war.
»Ich habe ihn gefunden.« Lange Zeit hörte ich nichts als das Knacken in der Leitung. Ein- oder zweimal, wie Shelly bebend einatmete.
»Wo ist er?« fragte sie schließlich.
»Er ist ein pensionierter College-Professor und lebt in Belleville.« Eine Stadt im Westen von Illinois, östlich von St. Louis. »Natürlich ist die Biographie schon ein paar Jahre alt, aber …« Ich ließ den Satz unvollständig. Unausgesprochen schien die Vorstellung weniger trügerisch.
»Wann fährst du hin und suchst ihn?«
»Erntedank steht vor der Tür. Besser könnte es gar nicht sein.«
Sie machte ein zustimmendes Geräusch. Und war still. Ich wollte ihre Augen sehen, ihr Gesicht – etwas, das mir einen Anhaltspunkt über ihre Gedanken geben würde. Ich konnte sie nicht frei heraus fragen. Wir kannten uns noch nicht lange genug.
Ich saß auf dem Boden meines Zimmers, allein, da Greg zum Essen gegangen und ich nicht hungrig war. Ich zog meine Knie unters Kinn und preßte sie mit einem Arm noch näher heran. Am liebsten hätte ich mich in einen Fötus verwandelt. Vor dem Fenster gab der Tag sich der Nacht hin, und der Augenblick der unausweichlichen Niederlage war gefroren im Blaurosa des Himmels. Schon immer war das für mich die trostloseste Zeit des Tages.
»Weißt du«, sagte ich sanft, »du wärst besser beraten, all das alleine herauszufinden. Manchmal habe ich das Gefühl, daß … ich weiß nicht … wenn noch etwas schief geht, mein Kopf platzt und ich mich nie wieder erholen werde.«
Nachdem ich das gesagt hatte, hörte es sich für mich dämlich an, und ich wünschte, es ungesagt machen zu können. Doch nun war es draußen. Und was sie auch
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