Rune
er und griff nach mir.
Ich erwachte schreiend auf der Schwelle der Befreiung.
31.
Es war der Freitag vor Erntedank, und jeder im vierten Stock von Scott Hall schien in bester Festtagsstimmung zu sein. Ich tat mein Bestes. Seit meinem letzten Aufenthalt war daheim nichts mehr geschehen, und viel mehr konnte ich nicht verlangen. Also klatschte ich mir am Freitagabend um Viertel nach sieben Old Spice ins Gesicht und griff mir Phil und Ashley, um die Bars auf der Suche nach ein paar Bieren und vielleicht ein oder zwei ernsten Beziehungen abzuklappern. Greg saß an seinem Schreibtisch und stand im Bann einer Videospielkonsole, die er spontan am Nachmittag gekauft hatte. Fette Raumschiffe schossen über den Bildschirm.
Das Telefon klingelte. Greg schien es nicht zu bemerken, da er gerade gegen Asteroiden oder Hämorrhoiden kämpfte, also ging ich dran. Die Stimme am anderen Ende war die von Shelly Potter, und mein Herz machte einen kleinen Sprung.
Meine Gedanken hatten sich in den vergangenen Wochen oft um sie gedreht, zweifellos auch wegen ihrer Hauptrolle im nicht jugendfreien Teil des letzten Traumes von Tri-Lakes. Viele langweilige Seminare und die Finsternis vorm Einschlafen waren erfüllt vom Gedanken an ihr Gesicht, ihre verletzten Augen, ihrem eigenen Anteil in dem Strudel, zu dem Tri-Lakes geworden war. Warum sollte ich nicht an sie denken? fragte ich mich häufig. Sie ist hübsch, sie ist klug, sie ist einfühlsam …
»Kommt mein Anruf ungelegen?« fragte sie.
»Nein, oh nein. Kein Problem.«
Und sie ist sieben Jahre älter als du, antwortete ein Teil von mir. Sie hatte einen Vorsprung im Spiel des Lebens. Oder anders ausgedrückt: Vor sieben Jahren hätte sie noch mein Kindermädchen sein können.
»Ich bin auf etwas sehr Interessantes gestoßen«, sagte sie. »Das heißt, wenn du noch daran interessiert bist, etwas über Tri-Lakes zu erfahren.«
Ich schloß die Augen. Es kam immer wieder darauf zurück. Und wenn wir keine Lösung fänden, würde das wohl auch immer so bleiben. Ein Teil von mir wollte noch immer den Kopf in den Sand stecken, aber wenn man den Kopf nicht mehr sieht, ist das nächste Ziel dein Arsch.
»Laß hören«, sagte ich.
»Kennst du den Teil der Zeitung, der ›Zeittafel‹ heißt?«
»Sicher.« Das war eine tägliche Spalte, die einige bemerkenswerte Ereignisse aufführte, die am jeweiligen Datum in der Geschichte der Stadt stattgefunden hatten.
»Diese Woche war es meine Aufgabe, die Kolumnen für nächste Woche vorzubereiten. Nun, ich mache Überstunden, weil es eine hektische Woche gewesen ist, und ich stoße auf die Aufzeichnungen von 1940. Und rate mal, was auftaucht.«
»Tri-Lakes«, flüsterte ich.
»Volltreffer.« Sie hörte sich an, als hätte sie etwas getrunken. »Drei Menschen starben bei einem Hausbrand. Damals gehörte das Land jemandem, der es verpachtet hatte. Wie dem auch sei, dieses Haus brannte am Montag, dem fünfundzwanzigsten November, und die Witwe des Bewohners und ihre beiden Mädchen gingen dabei drauf. In dieser Nacht gab es einen Sturm, so daß sich das Feuer nicht ausbreiten konnte. Es schlugen auch viele Blitze ein, und da das Haus abgeschieden stand, gab es keine Zeugen dafür, aber man nahm an, daß es vom Blitz getroffen worden war.«
Eine Welle der Erregung überkam mich, als hätte ich mit einem Schlage eine nagende Frage beantwortet. »Im Sommer habe ich dort mal was gefunden, was wie ein Grundstein aussah. Ich habe damals nicht viel darüber nachgedacht, und er war auch völlig überwachsen. Wow. Also hat dort wirklich mal jemand gelebt.«
»Halt’ dich fest, es kommt noch mehr. Es gab einen Überlebenden. Der Schwager der Frau. Er war ein Historiker oder so, ungefähr zweiundzwanzig. Er behauptete, daß er zur fraglichen Zeit in der Stadt gewesen sei und das Haus schon ziemlich ausgebrannt war, als er zurückkam.«
»Wie ist sein Name?«
»Joshua Crighton.« Sie buchstabierte es, und ich hielt es auf einem Zettel fest. »Aber es gibt nichts darüber, was danach mit ihm passierte. Und er steht nicht im Telefonbuch.«
»Verdammt.« Ich hielt inne, und für einen Augenblick sprach keiner von uns ein Wort. Dann: »Weißt du, Shelly, es ist nichts so Ungewöhnliches daran, nicht wie bei den anderen Sachen. Es ist tragisch, ja, aber es könnte nur ein Zufall sein.«
»Glaubst du wirklich, daß das alles ist?«
Ich seufzte. Meine eine Hälfte wollte wilde Schlußfolgerungen ziehen, während die andere darum flehte, erst
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