Rune
vernünftig abzuwägen. Doch letztere war schon die ganze Zeit kläglich gescheitert, also gewann die erste.
»Eigentlich nicht.«
»Sieh’ es mal so: Oberflächlich betrachtet hast du recht, es ist nichts allzu Sonderbares daran. Ich wollte fast schon weiterblättern, bis ich feststellte, um welchen Ort es ging. Aber bedenke, das Haus war fast dem Erdboden gleichgemacht. Da niemand irgend jemanden in Verdacht hatte, schob man es auf das Gewitter, und das war’s. Damals hatten die Spurensicherung und die Autopsie noch nicht die heutigen Möglichkeiten.«
»Und du meinst, es würde sich lohnen, mit diesem Crighton zu reden?«
»Wenn wir ihn finden können. Und das ist ein ziemlich großes Wenn.«
Die Rolle von Sherlock Holmes erschien mir nicht sonderlich reizvoll. Doch wenn man annahm, daß er nach dieser langen Zeit noch am Leben war und etwas Hörenswertes erzählen konnte, etwas, das all diese rätselhaften Teile zu einem klaren Bild zusammenfügen würde, mußte ich es versuchen. »Shelly, kannst du Nachforschungen über ihn anstellen? Ob er noch lebt, wo er jetzt ist?« Es schien ein Ding der Unmöglichkeit, ihn nach mehr als fünfundvierzig Jahren wieder auszugraben.
»Wenn ich einen Geistesblitz habe, teile ich es dir mit.«
»Dasselbe gilt für mich.«
Wir verabschiedeten uns, und als ich einhängte, nagte die Frustration wie eine hungrige Ratte an mir.
Ich wandte mich um und sah Greg an, der kein Wort von dem Gespräch mitbekommen hatte. Er manövrierte noch immer ein Schiff durch einen Schwarm häßlicher Dinge, die wütend aussahen.
Ich verließ das Zimmer, um auszugehen, doch ich war nicht mehr mit dem Herzen dabei.
Ich erinnere mich nur noch daran, ungefähr um vier Uhr heimgekommen zu sein, was hieß, daß ich weniger als fünf Stunden Schlaf bekommen hatte, als Shelly wieder anrief. Gerade noch genug Zeit, um wieder nüchtern zu werden – und einen Widerwillen gegen das Leben, Bier und die Welt im allgemeinen zu entwickeln.
»Ich habe dich doch nicht etwa geweckt, oder?« fragte sie mit einer winzigen Spur Belustigung, da sie ganz genau wußte, daß sie das hatte.
Ich grunzte und ließ sie gewähren. »Was ist?«
»Ich glaube, ich weiß, wie wir Joshua Crighton ausfindig machen können«, sagte sie und hörte sich dabei sehr selbstzufrieden an. »Vielleicht.«
So schnell war ich noch nie einen Kater losgeworden.
»Letzte Nacht«, sagte sie, »habe ich darüber nachgedacht, daß Crighton ein Historiker war und er vielleicht ein paar Bücher veröffentlicht hat. Und wenn es ein aktuelles mit einer Kurzbio auf dem Rücken gibt, steht da vielleicht auch, wo er lebt. Zumindest könnte man den Verleger anschreiben und hoffen, daß er es weiterleitet.«
Ich grinste in die Muschel. »Mal in der Bücherei nachgeschaut?«
»Ich war dort, sobald sie öffneten. Und ich habe eines gefunden. Es heißt Blutiges Williamson: Eine Studie amerikanischer Gesetzlosigkeit. Es soll das Buch über den Landkreis sein. Aber es ist alt und wurde schon 1943 veröffentlicht.«
»Also nicht lange nach dem Feuer.«
»Und es gibt auch keine Autorenbiographie auf dem Einband. Ich habe die Bibliothekarin gefragt, ob von ihm noch andere Bücher erhältlich seien, und sie wußte es nicht. Sie hat gesagt, es wäre möglich, aber sie hätten sie nicht auf Lager, weil ihnen vielleicht der lokale Bezug des Buchs über Williamson fehlt. Sie schlug vor, daß ich, wenn ich wirklich interessiert sei, das Bücherverzeichnis einer College-Bibliothek überprüfen solle.«
»Volltreffer.« Ich lachte sanft und verspürte einen angenehmen Anflug von Triumph. Ein winzig kleiner Sieg, doch besser als nichts. »Ich glaube, ich kann das mit meinem heutigen Stundenplan in Einklang bringen.«
»Was auch dabei herauskommt, laß es mich wissen, ja?«
»Natürlich. Und hör mal – erinnere mich dran, daß ich dir einen Drink spendiere oder so, irgendwann mal.«
Ein Augenblick der Stille, zwei Sekunden vielleicht, und sie schienen Stunden zu währen. »Sag’ das nicht zu laut. Ich habe ein erstaunliches Gedächtnis für so etwas.« Und wenn es möglich ist, jemandem am Telefon lächeln zu hören, dann lächelte sie.
Die Bibliothek von Andrews war keine große Hilfe. Ich fand das gleiche Buch wie Shelly, sonst aber nichts. Wenigstens war hier der Bibliothekar etwas kundiger. Er wußte von mehreren anderen Büchern Crightons, wenn Andrews diese auch nicht führte. Er schlug vor, es in Champaign-Urbana auf der Universität
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