Runlandsaga - Feuer im Norden
getan? Es war alles so völlig sinnlos.
»Endlich sehen wir wieder, wohin wir überhaupt segeln«, sagte der Alte laut.
Der Steuermann, den er angesprochen hatte, nickte. »Suvare hat uns kaum vom Kurs entlang der Küste abgebracht. Ich wäre ja vorsichtshalber noch weiter auf die offene See gefahren, aber sie sagte: ›Behalt den Kurs bei!‹ Und verdammt will ich sein, sie hat Recht gehabt! Da liegen die Weißen Klippen an Steuerbord, als hätte sie einfach durch den Nebel geblickt!«
Themet sah, wie sich ein stolzes Grinsen auf dem Gesicht des alten Bootsmanns breitmachte, als hätte der andere dessen eigene Tochter gelobt.
»Ay, sie hat die See im Blut, unser Khor! Vor zehn Jahren hätte ich nicht geglaubt, dass ich so einen Satz mal über eine Frau sagen würde, aber wenn sie ein Schiff nicht sicher durch eine Nebelbank bringen kann, dann kann es keiner.«
Die beiden Männer sahen weiter über die Reling hinaus, wo sich im Norden Felgars Küstenlinie aus dem Dunst herauszuschälen begann, steil aufragend und langgezogen wie eine riesige Mauer. Als sie so hinter dem zurückweichenden Nebel sichtbar wurde, war ihre Farbe zunächst von einem stumpfen und abweisenden Grau. Doch mit einem Mal gelang es den Strahlen der Morgensonne, ungehindert von den letzten Ausläufern der sich langsam verziehenden Nebelbank den Tag zu erhellen. Die gerade noch kaum ins Auge fallenden Sandsteinfelsen erglühten von einem Moment auf den anderen in einem hellen Glanz, der keinen Zweifel mehr daran ließ, woher sie ihren Namen besaßen. Besonders auffallend war eine einzeln stehende Klippe am östlichen Rand der Bucht, die wie ein ausgestreckter Finger aus der Brandung ragte und in den wolkenlosen Himmel zeigte. Auf diesem Felsen stand ein schlanker, viereckiger Pfeiler aus demselben Gestein wie das der Klippe, der zu seinem Ende hin allmählich schmaler wurde und wie ein riesiger Pfeil spitz zusammenlief.
Themet hatte schon von den Weißen Klippen gehört. Ein betrunkener Seemann auf einem Handelsschiff aus Dorsingal hatte sie an einem Abend erwähnt, als der Junge wieder einmal heimlich an der angelehnten Tür zur Schankstube gestanden und den Gesprächen der Gäste gelauscht hatte. Wie immer war er bereit gewesen, jederzeit in den Schatten des Flurs zu verschwinden, falls Mari oder seine Mutter unverhofft mit einem Tablett voll Essen aus der Küche gekommen wären, denn eigentlich hätte er schon längst im Bett sein sollen.
Der Seemann, an den sich Themet erinnerte, hatte Streit mit einem Kameraden angefangen. Das hitzige Wortgefecht zwischen beiden war immer lauter geworden, bis schließlich Messer ins Spiel gekommen waren. Sofort hatte die Stimme seines Vaters die Streithähne zur Ruhe gerufen. Nach weiteren wütenden Ausbrüchen, die sich nun gegen Arvid gerichtet hatten, war Themets Vater zu dem Seemann gegangen, der die Auseinandersetzung begonnen hatte, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Schließlich hatte sich der betrunkene Kerl wieder beruhigt – ja, mehr als das. In seinem Rausch war er regelrecht weinerlich geworden. Er stammte selbst aus dieser Stadt, und das Heimweh nach Andostaan hatte ihm während der langen Fahrt schwer zugesetzt.
Als ich gestern im Sonnenuntergang die Weißen Klippen gesehen hab, da wusste ich: Andostaan ist nur noch ein paar Stunden entfernt, hatte Themet ihn durch die angelehnte Tür sagen hören. Ich hab‘s kaum noch erwarten können. Am liebsten wär ich sofort weitergesegelt. Aber natürlich haben wir das nicht gemacht. Wir sind da wie immer für die Nacht vor Anker gegangen.
Ein eigenartiges Geräusch, wie ein unterdrücktes Schluchzen, war zu hören.
Verdammt, die Weißen Klippen sind so schön, dass einem das Herz in der Brust schmerzt. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, dann weiß ich, die Stadt, in der ich zur Welt gekommen bin, ist nicht mehr weit.
Themet hatte sich damals gefragt, wie diese Klippen wohl aussehen mochten, dass sie einen erwachsenen Mann zum Weinen bringen konnten. Bestimmt mussten sie atemberaubend sein.
Jetzt wusste er es.
Aber nicht einmal die Schönheit dieses Frühlingsmorgens, der nun frei von Nebel einen klaren Blick auf die hohen Felsen an Steuerbord ermöglichte, konnte seine Gedanken von den Gesichtern seiner Eltern abwenden, von diesen letzten Augenblicken, in denen er sie gesehen hatte, bevor einer der Seeleute ihn unter Deck zerrte.
Ein Ausruf des Bootsmanns riss ihn aus seinen Gedanken. »Achar, Khor!«
»Achar! Hat sich der Nebel also doch
Weitere Kostenlose Bücher