Runlandsaga - Sturm der Serephin
etwas mit seinen Freunden unternehmen, wäre es ein Tag wie jeder andere, als sei das Erlebnis von gestern niemals geschehen, als wäre es bloß eine hässliche, unheimliche Geschichte, eine wie jene, die Mirka einmal bei einem abendlichen Spaziergang hoch oben auf den Klippen erzählt hatte, um Velliarn und ihn zu erschrecken – die vom kopflosen Piraten Actas, den man angeblich in Vollmondnächten dabei beobachten konnte, wie er auf seinem schwarzen Hengst aus der Brandung heraus und über den Strand ritt.
Themet rutschte vom Bett und zog sich seine Wolljacke an. Dann ging er zur Tür und schritt hinaus auf den Flur. Niemand war zu sehen. Wenn er es leise anstellte, konnte er für ein paar Stunden verschwinden. Niemand würde bemerken, dass er überhaupt weg gewesen war. Seine Mutter war unten beschäftigt. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie tagsüber viel zu viel zu tun hatte, um in sein Zimmer zu kommen und mit ihm zu sprechen. Nein, bis zum Eintreffen der Gäste am Nachmittag, wenn man zwei zusätzliche Hände in der Küche brauchen würde, hatte er Zeit. Ein paar Stunden konnte er mit seinen Freunden spielen. Das war alles, woran er im Augenblick dachte.
Auf leisen Sohlen schlich er zum Rand der Treppe vor und wollte gerade die erste Stufe betreten, als er hörte, wie sich hinter ihm eine Tür öffnete.
Er fuhr herum. Im Türrahmen stand sein Vater im Nachthemd. Seine Augen musterten ihn verschlafen unter leicht angeschwollenen Lidern.
»Morgen, Papa!«, begrüßte ihn Themet, bemüht, so beiläufig wie möglich zu klingen.
Arvid brummte etwas Unverständliches zurück. Offensichtlich war er gerade erst aufgewacht. Seine Hand wanderte zur Türklinke, wie um sich an ihr festzuhalten.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Themet.
Sein Vater nickte und schloss die Augen.
»Bring mir mal etwas Wasser!«, sagte er heiser.
Themet lief die Treppe hinunter. Kurz bevor er die Küche betrat, hielt er an und zog die Jacke aus. Er warf sie neben der Tür auf den Boden. Seine Mutter sollte keinen Verdacht schöpfen, weil er im Haus angezogen war, als würde er gleich hinaus auf die Straße laufen. Dann ging er in den Raum.
Rena war immer noch dabei, Kartoffeln zu schälen. Mari hatte sich inzwischen zu ihr gesetzt. Die beiden Frauen blickten kurz auf, als er eintrat, und wandten die Aufmerksamkeit dann wieder ihrer Arbeit zu.
Themet nahm sich einen Becher aus einem Regal über dem Herd und tauchte ihn in einen Wassereimer, der daneben auf dem Boden stand. Dann lief er mit dem Becher in der Hand wieder aus der Küche und die Treppe hinauf, wo sein Vater immer noch mit geschlossenen Augen im Türrahmen stand, als wäre er im Stehen erneut eingeschlafen.
Beim Herannahen der Schritte seines Sohnes auf den Stufen hob Arvid den Kopf und sah ihn an. Ein schwaches Lächeln wanderte über sein Gesicht.
Themet reichte ihm das Wasser.
»Danke, Junge!«, sagte Arvid heiser und setzte den Becher an den Mund. Er trank ihn in einem Zug aus und wischte sich mit dem Nachthemdärmel über die Lippen.
»Ist es gestern wieder spät geworden?«, fragte Themet.
»Ay«, erwiderte Arvid, »die Suvare hatte ihre letzte Nacht im Hafen. Er zwinkerte seinem Sohn zu. »Jetzt kenn ich bestimmt fast jedes Sauflied aus Mendon auswendig.«
Themet musste grinsen, obwohl ihm eigentlich nicht danach war. Die roten, geschwollenen Augen seines Vaters zeugten von noch anderen Begebenheiten der vergangenen Nacht als nur über vom Liedersingen.
Arvid fuhr sich durch die Haare, die in alle Richtungen abstanden, als hätte er sich stundenlang im Bett herumgewälzt.
»Hoffentlich konntest du bei all dem Krach schlafen. Wir wollten schon beinahe Schluss machen, da kam auch noch der Khor der Suvare herein, eine Frau, die schlimmer soff als ein Loch und alle unter den Tisch trank. Mari und ich haben versucht, das Gegröle der Seeleute nicht zu laut werden zu lassen, aber du weißt ja, wie das mit Leuten ist, die tief ins Glas geschaut haben.«
O ja, das weiß ich , schoss es Themet durch den Kopf. Ich glaub, ich hab eine Ahnung davon, wie es ist, wenn Leute zu tief ins Glas schauen. Leute wie du zum Beispiel.
Aber das hätte er nicht laut sagen können. Niemals. Nicht seinem Vater ins Gesicht.
Dass sein Vater sich fast jeden Abend betrank, dass seine Trunksucht ihn auf eine unheimliche Weise unsichtbar zu machen schien, dass der Wein und das Bier ihn in eine Welt schleuderten, in der weder Themet noch seine Mutter ihn erreichen konnten,
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