Runlandsaga - Sturm der Serephin
wirkliche Abscheu gegenüber der Trunksucht hatte er erst entwickelt, als ihm aufgefallen war, wie sie seinen Vater verändert hatte.
Er konnte sich nicht erinnern, wann genau Arvid zu trinken angefangen hatte. Themet konnte sich an vieles, das länger als ein Jahr zurücklag, nicht gut erinnern. Für ihn als Kind war das Leben weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft übermäßig geprägt, sondern es glich einem ständigen Schwimmen im Strom des Jetzt. Dieser Strom besaß keine Ufer, sondern dehnte sich von einem Tag zum nächsten und wieder zum nächsten aus, ohne eine Quelle oder eine Mündung ins Meer. Irgendwann während des Schwimmens in diesem Strom war ihm plötzlich aufgefallen, dass sein Vater unsichtbar zu werden begann.
Manchmal ließ Arvid Rena und Mari tagsüber alleine im Schankraum zurück und verschwand im Keller, aus dem er erst Stunden später zurückkehrte, schwankend und mit schwitzender Stirn, als wäre er dort unten ständig wie ein gefangener Bär in einem Käfig hin und her gelaufen. Manchmal blieb er, nachdem er spät abends den letzten Gast vor die Tür gesetzt hatte, noch hinter dem Tresen, starrte im Halbdunkel die leeren Stühle an und begab sich erst so spät ins Bett, dass er am folgenden Tag bis mittags schlief. Für Themet hatte er nur noch wenig Zeit. Wenn der Junge ein paar Stunden mit seinem Vater verbringen wollte, musste er ihm dafür im Schankraum helfen. Das wiederum sah Rena nicht gerne.
Während Themet hungrig seine Rühreier verschlang, blickte er mit gesenktem Kopf über den Tisch zu seiner Mutter hinüber, sah, wie sie die Kartoffeln schneller und gröber schälte als kurz zuvor, und wusste, dass sie an seinen Vater dachte. Vielleicht erinnerte sie sich an eine ihrer nächtlichen Auseinandersetzungen mit Arvid, die Themet heimlich mit angehört hatte, vielleicht klangen ihr die eigenen Worte in den Ohren, so wie ihr Sohn sie in diesem Moment erneut zu hören glaubte.
»Was hat ein kleiner Junge spätabends unter all den Trunkenbolden verloren?«, herrscht Rena ihren Mann an . Es ist einer jener Tage, an dem ihr Mann weniger als üblich getrunken hat. Er hat gerade den Eingang zum Anker abgeschlossen und sitzt mit ihr in der Küche. Die Tür zum Flur ist nur angelehnt. Themet, der sich im Dunkeln auf die Treppe geschlichen hat, kann jedes Wort hören. Er kann nicht schlafen und hat großen Durst, deshalb hat er sich barfuß nach unten begeben, aber vorerst ist die trockene Zunge in seinem Mund vergessen. Im Moment lauscht er, im Schritt verharrend, der verärgerten Stimme seiner Mutter.
»Muss dass sein, dass er sieht, wie einige von denen sich aufführen? Dass er hört, was sie im Suff erzählen?«
»Er wollte mir unbedingt bei der Arbeit helfen, also hab ich ihn zusammen mit Mari bedienen lassen. Was ist denn so schlimm daran?«
Die Stimme seines Vaters hört sich gequält an. Ihm scheint klar zu sein, dass er in die Enge getrieben worden ist und aus dieser Auseinandersetzung nicht ohne eine Entschuldigung wieder herauskommen wird.
»Er ist ein Kind, Arvid! Verstehst du das denn nicht? Er ist ziemlich weit für sein Alter, vernünftiger als die meisten, aber trotzdem ist er ein Kind!«
»Ich hab ihn einfach gerne bei mir, Rena! Darum habe ich ihm seine Bitte nicht abgeschlagen.«
Themet hört seine Mutter tief durchatmen – es ist ein so lautes Geräusch, dass es bis zu ihm auf die dunkle Treppe vordringt.
»Dann verbring mehr Zeit mit ihm – aber nicht in der Schankstube!«
»Und wo soll ich die hernehmen?« Nun klingt sein Vater ebenfalls zornig. Da seine Stimme lauter geworden ist, läßt sich auch leichter bemerken, dass er an jenem Abend wieder einer seiner besten Gäste war. Seine Worte ertönen gedehnt und so rau wie die eines Marktschreiers. »Du weißt genauso gut wie ich, dass wir einpacken können, wenn wir nicht länger geöffnet haben als die Fellhandelsstation! Die können es sich leisten, ihr Bier viel billiger zu verscheuern, da müssen wir wenigstens etwas haben, was uns die Gäste erhält. Wir haben eben länger offen!«
»Ay, wir haben länger offen, damit sich auch die letzten Saufköpfe noch bis tief in die Nacht unter den Tisch trinken können und ihr Geld bei uns lassen statt bei den anderen, aber um welchen Preis? Wir schuften uns fast um den Verstand. Wie lange halten wir das noch durch? Sieh dich doch an, Arvid! Du bist fast jedes Mal betrunken, wenn du ins Bett fällst!«
»Das ist nicht wahr!« Die Stimme seines Vaters
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