Runlandsaga - Wolfzeit
um schnell wieder auf den jungen Mann vor sich zu zielen. »Allein? Was soll das heißen? Dass du vom Himmel gefallen bist?«
Enris gab keine Antwort. Die Wahrheit wollte er auf keinen Fall sagen, und eine Lüge fiel ihm gerade auf den Tod nicht ein. Sein Verstand war leer wie eine sonnengebleichte Muschel.
Der Pirat dachte nach. Um seinen Gefangenen mit Gewalt zum Sprechen zu bringen, hätte er beide Hände frei haben müssen. Schließlich verzog sich sein Gesicht zu einem bösen Grinsen. »Egal. Soll sich doch Shartan mit dir herumschlagen. Wenn der seine Neunschwänzige rausholt, dann reden sogar die Toten, verlass dich drauf!« Seine Miene wurde wieder hart. »Los, umdrehen! Immer schön langsam den Weg runter zum Strand. Und lass dir ja nicht einfallen, mir davonrennen zu wollen. Der Bolzen hier holt dich ein wie nichts, dafür muss ich nur einen Finger krumm machen.«
Gehorsam setzte sich Enris in Bewegung. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend folgte er dem schmalen Pfad, der unweit des Wachturms weiter hinunter zum Strand führte. Ab hier waren Stufen in den Stein der Klippe gehauen worden, so dass es auch ohne zusätzliche Lichtquellen nicht schwer war, im hellen Schein dieser Vollmondnacht einen festen Tritt zu finden.
Ihn überkam das eigenartige Gefühl, dass er all dies schon einmal erlebt hatte. Aber er war doch noch nie an diesem Ort gewesen, auf dieser Insel fern von Runland in der Weite der nördlichen See! Was war es dann, was ihm auf so unheimliche Weise bekannt vorkam, dass es ihm die Nackenhaare aufstellte?
Da durchzuckte ihn die Erkenntnis – die Schwarze Nadel! Die schier endlose Stufenflucht hinab zu Carn Taars Innenhof, der erzwungene Abstieg mit Ranár im Rücken.
Diese Erinnerung löste mit jedem weiteren Schritt auf dem Pfad zum Strand Enris’ Lähmung. Ay, er war in Todesgefahr, wieder einmal, wie schon so oft in den letzten Wochen. Aber jedes Mal hatte er überlebt. Er war Ranár entkommen, einem Wesen, das um ein Vielfaches mächtiger war als dieser Pirat hinter ihm, dessen einzige Überlegenheit darin bestand, dass er eine gespannte Armbrust in den Händen hielt. Er war nicht mehr der unerfahrene junge Mann, der am Ende des vergangenen Jahres in Andostaan angekommen war. Dieser Enris war in der brennenden Stadt zurückgeblieben. Er hatte es nicht an Bord der Suvare geschafft. Vielleicht war er schon im Inneren des Quelors gestorben. Der Enris, der Ranár entkommen war und den Angriff der Serephin überlebt hatte, würde sich nicht noch einmal wie ein wehrloses Schaf vor seinen Schlächter führen lassen. Vielleicht kamen eine Menge Schmerzen auf ihn zu. Er würde sie aushalten müssen, so wie Farran es hatte aushalten müssen, von ihnen gequält zu werden. Das Rad der Schicksalsgöttin hatte sich wieder einmal gedreht, und nun war die Reihe an ihm. Tief in ihm, so gut verborgen, dass er sich dessen nur schemenhaft bewusst war, hasste er Suvare für die kalte Entschlossenheit, mit der sie ihren Gefangenen gefoltert hatte. Doch wenn es auch entsetzlich war, sich dies einzugestehen, so musste Enris doch zugeben, dass es Suvares Härte war, die ihm jetzt vor Augen stand. Er musste so tun, als ob die Kerle seinen Willen gebrochen hätten. Aber gleichzeitig würde er die Augen offen halten. Er war noch lange nicht am Ende.
Inzwischen hatten sie den Fuß der Klippe erreicht und stiegen über mehrere kleinere Felsbrocken auf den steinigen Strand hinab. Die beiden Gestalten am Lagerfeuer bemerkten sie. Einer griff sich ein brennendes Stück Holz. Gemeinsam kamen sie Enris und dem Mann hinter ihm entgegen.
»Was zum ...«, begann der Größere der beiden Piraten, während der andere das brennende Scheit höher hielt, um Enris’ Gesicht besser erkennen zu können. »Wen bringst du uns, Marva?«
»Der Junge wollte sich an mir vorbei zum Strand schleichen«, gab der Mann mit der Armbrust zurück. »Keine Ahnung, wo er hergekommen ist, aber bestimmt ist er nicht allein. Shartan soll ihn sich ansehen.«
Der Kleinere der Piraten wedelte mit dem brennenden Scheit so nah vor Enris’ Gesicht herum, dass dieser zurückzuckte, damit seine Haare nicht Feuer fingen. »Das wird lustig!« Er grinste. Obwohl er kaum älter als Enris sein konnte, besaß er nicht mehr viele Zähne. Die wenigen, die ihm geblieben waren, saßen ihm braun verfärbt und so schief wie alte Grabsteine im Mund. »Du weißt doch bestimmt, warum man ihn den ›Hecht‹ nennt, was?«, fragte er. Sein schlechter Atem
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